M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
auch sind. Sie verstehen den Ernst der Lage, die sich noch dadurch verschärft hat, dass Ihr Kollege zusammengeschlagen wurde und Sie das Gerücht in die Welt gesetzt haben, die Täter wären Rechtsradikale gewesen. Nichts ist bewiesen, Herr Süden, und wir sollten unter den Umständen, die ich Ihnen gerade geschildert habe, alles dransetzen, dass solche Vermutungen nicht in der Presse landen. Was also hat Frau Bischof Ihnen anvertraut? Ich appelliere dringend an Ihre Verantwortung als Ex-Kollege, aber auch als Bürger einer Stadt, die den Makel zu tragen hat, dass in ihrem Stadtrat ein Neonazi sitzt, ein hoher Funktionär der NPD, ein enger Vertrauer der Netzwerke und Kameradschaften.«
Als Bürger der Stadt, in der er seit seinem achtzehnten Lebensjahr wohnte und arbeitete und in der er schon als Kind mit der Straßenbahn und als Jugendlicher mit der neu gebauten U-Bahn gefahren war, kannte Süden die entspannte Haltung im Rathaus zur Kriminalität. München, so hieß es seit Jahrzehnten, zähle zu den sichersten Großstädten Deutschlands und Europas, die Aufklärungsrate bei Mordfällen lag bei fast hundert Prozent. Nachts sei es auf den Straßen so sicher wie in keiner anderen Metropole.
Süden hatte solche Statistiken nie überprüft. Als er noch bei der Kripo tätig war, fiel das Licht der heilen Welt manchmal ein wenig auch auf ihn. Er sonnte sich dann im Lächeln des Oberbürgermeisters, wenn dieser bei Fällen, in denen verschwundene Kinder wohlbehalten wiedergefunden worden waren, die erfolgreiche Arbeit der Vermisstenstelle in aller Öffentlichkeit lobte. Währenddessen verprügelten Rechtsradikale einen griechischen Mitbürger, und Süden erhielt die Anweisung, von Einzelfällen zu sprechen. Rechtsradikale marschierten am zwanzigsten April durch die Innenstadt, und das Verwaltungsgericht erlaubte die Aktion, bei der Hundertschaften von Polizisten eingesetzt und Jugendliche festgenommen wurden, die Steine warfen und antifaschistische Parolen riefen.
Als Bürger der Stadt wunderte Süden sich schon lange nicht mehr, dass Neonazis rassistische Prospekte an Schulen verteilen und sich rechtskräftig Verurteilte trotz eines Kontaktverbots bei Konzerten rechter Rockbands in Franken treffen durften, während nachweislich freiheitlich-demokratisch agierende Organisationen beim Bayerischen Verfassungsschutz als linksextrem und somit als nicht förderungswürdig galten.
Süden war nie – auch nicht in seiner von Radikalenerlass, linksextremem Terrorismus, Olympiaattentat, Biermann-Ausbürgerung, staatlicher Bespitzelung eines missliebigen Wissenschaftlers und anderen gesellschaftspolitischen Erschütterungen geprägten Jugend – ein lautstark auftretender politischer Mensch gewesen. Doch worüber er nachdachte, das sprach er auch aus. Wenn seine Vorgesetzten ihn deswegen offiziell rügten, rügte er sie inoffiziell wegen unerhörter Hörigkeit.
Mit zunehmendem Alter bettete er seine Meinung und seinen Abscheu gegenüber Vertretern von Stadt und Staat, deren Weltsicht sich in ihrer Krawattennadel spiegelte, in Schweigen und pure Wahrnehmung. Gelegentlich ging er am Rand von Demonstrationen mit, unterschrieb Petitionen, überwies eine Spende an Amnesty oder Greenpeace. Er nahm, weil er es als seine Pflicht ansah, an Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen teil, las die eine oder andere Zeitung und ertappte sich dabei, wie er am Ende mancher Tage sein Bier beschimpfte.
Das zumindest – so war ihm eines Nachts aufgefallen – hatte er mit seinem Vater gemeinsam, der nie ein Wort über die politischen Zustände im Dorf oder in der Welt verloren hatte. Aber er las regelmäßig die Heimatzeitung von der ersten bis zur letzten Seite und murmelte dabei an sein Weizenbierglas hin, belauscht von seinem Sohn hinter der Kinderzimmertür. Als Erwachsener trank Süden zwar nie Weißbier, nur Helles, und er redete auch nicht leise mit seinem gläsernen Niemand, sondern so wie sonst auch. Doch das Ritual war das gleiche, und Süden stellte fest, dass es ihm guttat.
Als verantwortungsvoller Bürger, dachte Süden in der mit Pokalen vollgestellten Kneipe und leerte sein Glas, sollte er einem hochrangigen Ordnungshüter des Staates die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit. »Frau Bischof«, sagte er, »geht insgeheim davon aus, dass Siegfried Denning von Leuten aus dem Umfeld des Neuhauser Bergstüberls entführt worden ist.«
Dieser Satz schien einen Riss in Welthes Vorstellung verursacht zu haben. Mit einem
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