Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
nächsten Stunden nicht benötigte. Mabel war an Bewegung gewöhnt, daher schritt sie kräftig aus und genoss die Sonne und den leichten Wind, in dem der Geruch von Frühling lag. Der weitläufige Park von Allerby zog sich in östlicher Richtung bis zum Fluss Fowey hinunter und grenzte südlich an das kleine Dorf Golant. Angela Thorn hatte Mabel erzählt, dass der Wald früher ein beliebtes Jagdgebiet gewesen war. Jagden fanden indes schon lange keine mehr statt. Heute kümmerten sich Förster darum, dass der Wildbestand nicht zu groß wurde.
Unwillkürlich lenkte Mabel ihre Schritte zu dem Weg, der zum Friedhof führte. Nach nur etwa zwanzig Minuten Fußmarsch schimmerte der gedrungene Turm einer alten Kirche durch die Bäume. Aus dem Buch, das Mabel über Allerby House gelesen hatte, wusste sie, dass die Kirche im 13. Jahrhundert erbaut und seitdem kaum verändert worden war. Durch ein überdachtes Tor, dessen hölzerne Flügel offen standen, betrat Mabel den Friedhof. Sie brauchte nicht lange zu suchen, denn das Grab von Michelle war noch immer üppig geschmückt. Drei große Kränze und zahlreiche Gestecke türmten sich auf dem Erdhügel, sodass das schlichte Holzkreuz kaum zu erkennen war. Am größten Kranz las Mabel auf der Schleife: Unvergessen – Dein Mann . Jane Carter-Jones hatte ebenso wie Angela Thorn einen eigenen Kranz mit entsprechenden Abschiedsgrüßen niederlegen lassen.
Mabel schluckte. Kein Wunder, dass Lord Douglas den Weg zu dem Ort, wo ihm Michelle am nächsten war, scheute. Dann jedoch bemerkte sie eine einzelne, etwas abseits liegende dunkelrote Rose, an deren Stiel eine kleine Schleife gebunden war. Irgendetwas war seltsam an dieser Blume. Mabel bückte sich und hob die Rose auf. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um den kleinen Aufdruck auf der Schleife erkennen zu können, denn sie hatte ihre Lesebrille nicht eingesteckt: In ewiger Liebe .
Mabels erster Gedanke war, dass die Rose nicht von Lord Douglas stammen konnte. Nicht nur, weil er den großen Kranz in Auftrag gegeben und das Grab seit der Beerdigung, die vor einer Woche stattgefunden hatte, nicht mehr aufgesucht hatte – am Vormittag hatte er ja deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht einmal in die Nähe des Friedhofs kommen wollte. Nein, etwas anderes ließ Mabel stutzen: Die Rose war frisch geschnitten worden, vor kaum mehr als zwei oder drei Stunden. Da Mabel sich im letzten Jahr viel mit Gartenarbeit beschäftigt hatte, erkannte sie die frische Schnittstelle, außerdem waren die Blütenblätter prall und saftig und die Ränder noch glatt. Eine Rose begann aber nur wenige Stunden, nachdem sie abgeschnitten worden war, zu welken, wenn man sie nicht ins Wasser stellte. Nun gab es im April selbst im milden Klima Cornwalls noch keine aufgeblühten Rosen, jedenfalls nicht in der freien Natur. Aber in den Gärten von Allerby befand sich ein Gewächshaus.
Ich muss herausfinden, ob dort Rosen gezüchtet werden, dachte Mabel. Nachdenklich strich sie über die Blume und legte sie wieder auf das Grab. Wer immer sie hierher gebracht hatte – ihm oder ihr würde es auffallen, wenn die Rose verschwunden war. Mabel würde die Sorte auch so erkennen, wenn ihre Vermutung stimmte.
Eine Stunde später hatte sie Gewissheit: Die Rose stammte tatsächlich aus dem Gewächshaus von Allerby. Sie trug den klangvollen Namen L. D. Braithwaite und war erst kürzlich geschnitten worden, denn nach einigem Suchen hatte Mabel an einem Strauch eine frische Schnittstelle gefunden. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Rote Rosen waren das Symbol der Liebe, und die kleine Schleife deutete ebenfalls auf eine leidenschaftliche Beziehung hin. Die Blume war nicht von einer Freundin oder einem sonstigen Bekannten auf das Grab gelegt worden, dessen war Mabel sich sicher. Wer hatte Michelle jedoch so nahegestanden, um ihr über ihren Tod hinaus ein Zeichen der Liebe zu hinterlassen?
8. Kapitel
In dieser Nacht fand Mabel keinen Schlaf. Die Entdeckung der Rose auf dem Grab veranlasste sie zu den wildesten Spekulationen. Obwohl sie durch Lord Douglas’ Äußerungen über seine Ehe den Eindruck gewonnen hatte, dass Michelle ihren Mann wirklich geliebt hatte, war sie doch eine junge und gesunde Frau gewesen. Mabel wusste nicht, ob Lord Douglas’ Lähmung auch bedeutete, dass ein ausgefülltes Sexualleben nicht mehr möglich war. Die meisten Querschnittsgelähmten hatten damit keine Probleme, es gab aber auch Fälle,
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