Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
die Kirche.“
Mabel faltete den Mantel ordentlich zusammen, dabei knisterte es in der rechten Tasche. Sie griff hinein und zog einen schlichten weißen Umschlag hervor.
„Der gehört mir!“ Bevor Mabel einen Blick darauf werfen konnte, hatte Angela ihr den Brief entrissen und schnell in die Gesäßtasche ihrer Hose gesteckt. Mit einem verlegenen Lächeln sagte sie: „Es ist nur ein Schreiben von meiner Bank. Lady Michelle nahm es entgegen, als ich nicht im Haus war. Ich habe es bereits vermisst und bei der Bank angerufen, denn sie muss wohl vergessen haben, mir den Brief zu geben.“
Jane Carter-Jones nahm Angelas Verhalten mit einem uninteressierten Schulterzucken zur Kenntnis. Mabel erschien die Sache aber seltsam, auch weil Angela plötzlich sehr nervös wirkte. Sie vermutete, dass es mit dem Brief mehr auf sich hatte, als Angela vorgab. Die Erklärung, Michelle habe das Schreiben angenommen und vergessen, es Angela zu geben, schien Mabel irgendwie konstruiert. Sie packte weiter die Kleidung zusammen, beobachtete Angela aber aus den Augenwinkeln. Als die Wirtschafterin nach wenigen Minuten sagte: „Ich glaube, es ist Zeit für einen Tee. Ich gehe rasch in die Küche“, vermutete Mabel, dass sie vorhatte, den Brief zu vernichten. Das musste sie verhindern! Sie trat dicht neben Angela, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, schwankte und stöhnte laut.
„Oh, ich glaube, mir ist nicht ganz wohl.“
Wie von Mabel beabsichtigt, stützte Angela sie sofort hilfsbereit, während Jane barsch bemerkte: „Der Kreislauf, nicht wahr? Das ist das wechselhafte Wetter. Setzen Sie sich hin und trinken Sie ein Glas Wasser, dann wird es schon wieder.“
Angela führte Mabel zur Couch, dabei umfasste Mabel die Taille der jungen Frau. Es waren nur wenige Sekunden, aber die Zeit reichte Mabel, um den Brief aus Angelas Hosentasche zu ziehen und in ihren eigenen Hosenbund zu schieben, ohne dass die Wirtschafterin es bemerkte. Aus dem Bad holte Angela ein Glas Wasser, das Mabel dankbar trank. Nun klopfte ihr Herz wirklich schneller als gewöhnlich, denn immerhin hatte sie sich gerade als Taschendiebin betätigt.
„Wir haben das meiste jetzt sortiert“, sagte sie zu Lady Jane. „Wenn Sie erlauben, möchte ich mich auf mein Zimmer zurückziehen und etwas ruhen. In ein oder zwei Stunden bin ich wieder auf den Beinen.“
Lady Jane winkte ab. „Von mir aus, den Rest schaffe ich auch allein. Und Sie, Angela, machen uns einen starken Tee!“
Angela zögerte. „Soll ich Sie auf Ihr Zimmer begleiten, Miss Mabel? Nicht, dass Sie uns auf der Treppe umkippen.“
„Danke, das ist nicht nötig, mir geht es schon besser.“
Bis Mabel die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging sie langsam und gebeugt, eine Hand auf ihre Brust gedrückt. Kaum war sie jedoch außer Sicht, lief sie schnell und ohne Anzeichen einer Schwäche in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und zerrte den Brief hervor. Als sie las, an wen das Schreiben adressiert war, stockte ihr der Atem, und sie glaubte, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen. Der Umschlag war noch nicht geöffnet worden, aber Mabel konnte jetzt keine Rücksicht auf das Briefgeheimnis nehmen. Sie riss ihn auf und überflog die wenigen computergeschriebenen Zeilen. Ihr nächster Griff ging zum Telefon, doch sie erreichte weder Victor noch Alan. Der Tierarzt war offenbar unterwegs und in einem Funkloch oder hatte sein Handy ausgeschaltet, und Alans Sekretärin meinte, Mr Trengove wäre den ganzen Tag über bei Gericht und erst am folgenden Tag wieder zu sprechen.
Mabels Gehirn arbeitete fieberhaft. Das Mosaik, das sie sich mühsam zusammengestellt hatte, war mit einem Schlag zerbrochen, aber ein anderes Bild entstand aus den Teilen, und plötzlich lag die Wahrheit deutlich und klar vor ihr. Wie hatte sie nur so blind sein können? Mabel schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Nun galt es, schnell zu handeln. Sie zog sich ihren Mantel über, nahm die Autoschlüssel und fünf Minuten später war sie bei ihrem Wagen. Auf dem Weg aus dem Haus war sie niemandem begegnet und sie hoffte, von keinem der Fenster aus gesehen worden zu sein. Noch hatte sie keine Ahnung, wie sie Lady Jane oder dem Captain erklären sollte, warum sie derart plötzlich hatte wegmüssen. Sich Gedanken darüber zu machen – dazu war später noch Zeit. Jetzt musste sie als Erstes klären, was der Brief, der mehr als verwirrend war, zu bedeuten hatte, denn Angela würde bemerken,
Weitere Kostenlose Bücher