Macabros 005: Die Schreckensgöttin
leckte
sich seine Schnauze und war zufrieden.
Auch während des kurzen Kampfes, der nicht einmal eine halbe
Minute gedauert hatte, war Rani Mahays Aufmerksamkeit dem siebenten
und letzten Tiger gegenüber nicht erlahmt.
Er rief einen kurzen, scharfen Befehl, und das Tier blickte auf.
Im gleichen Moment vermählten sich die Blicke des Menschen und
der Raubkatze, und das Tier trottete auf Mahay zu. Der Inder machte
sich nicht einmal die Mühe, vom Boden aufzustehen. Die Raubkatze
leckte ihm die Hand und streifte um ihn herum wie eine Hauskatze, die
sich etwas zu fressen erhofft.
Die Spannung fiel ab von den Menschen.
Beifall toste, Begeisterungsrufe erfüllten das Zelt, und auch
die Artisten in der Manege klatschten. Ihren Gesichtern sah man die
Erleichterung an.
Rani Mahay, der Koloß von Bhutan, hatte gesiegt. Nicht nur
seine geistigen Kräfte hoben ihn weit über den
Durchschnitt, auch seine körperlichen waren erstaunlich. Er
hatte die riesige, schwere Katze herumgerissen, als wäre das
nichts gewesen.
Rani Mahay drehte seine Ehrenrunde. Es war ein Bild, das man nicht
alle Tage zu sehen bekam.
Der Inder stieß einen grellen Pfiff aus, und die Raubkatzen
gehorchten. Sie trotteten eine nach der anderen hinter ihm her.
Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt stieg er auf den
Manegenrand, hob beide Arme und winkte der begeisterten Masse
glücklich zu. In seiner Bewegung gab es keine
Überheblichkeit.
Er lief rund um die Manege, und die Raubkatzen trotteten hinter
ihm her wie junge Hunde.
Die Menschen lachten und klatschten im Rhythmus der Musik. Es war
eine unbeschreibliche Stimmung.
Als Rani Mahay auf der Höhe von Carminia Brados Platz kam,
verharrte er.
Die attraktive Brasilianerin in dem weißen, mit
Goldfäden durchwirkten elegant wirkenden Hosenanzug, dessen
Oberteil raffiniert ausgeschnitten war, sah noch immer etwas bleich
aus.
Rani Mahay wandte den Kopf Richtung Manegeneingang, und ein
livrierter Helfer stürzte sofort davon.
Dann drehte der Koloß von Bhutan der schönen
Südamerikanerin sein Gesicht zu, ging in die Hocke und verbeugte
sich vor ihr.
»Es tut mir leid«, sagte er in englischer Sprache. Er
beherrschte die Sprache ausgezeichnet, doch die Silben kamen etwas
abgehackt über seine Lippen. »Sie haben sehr großen
Mut bewiesen. Ich würde es bedauern, wenn Sie große Angst
haben ausstehen müssen?«
Er musterte sie aus großen, gutmütigen Augen.
Carminia Brado schüttelte den Kopf. »Es war nicht so
schlimm. Im ersten Moment allerdings war ich – etwas
erschrocken.« Sie hatte sich wieder ganz in der Gewalt. Die
Episode kam ihr vor wie ein Traum.
»Meine Tiger sind nicht immer alle sofort unter Kontrolle zu
bekommen«, sagte Rani Mahay mit seiner harten Aussprache.
»Einer oder zwei brechen dann aus. Doch das ist ohne Bedeutung.
Sobald ich den Kopf wende und sie anrufe, reagieren sie. Und dann
sind sie auch schon in meinem Bann. Selbst die Reaktion des Publikums
ist eingerechnet. Immer wieder springen Menschen vor Angst auf. Aber
es kommt zu keinem Zwischenfall, niemand braucht Angst zu
haben.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch er unterbrach
sich, da in diesem Moment der Livrierte angerannt kam und einen
großen Strauß mit dunkelroten Rosen anschleppte.
Rani Mahay wischte sich mit einer etwas verlegenen Geste über
seine prachtvolle Glatze, nahm den Riesenstrauß entgegen und
meinte zu Carminia Brado: »Eigentlich hatte ich ihn für
eine Kollegin vorgesehen, die heute Geburtstag hat. Doch ich
weiß, sie ist einverstanden, wenn ich diesen Strauß Ihnen
überreiche. Ich wollte vorhin noch eine Kleinigkeit
erwähnen: als ich Sie sah, stutzte ich einen Augenblick. Nur
eine zehntel Sekunde. Doch das reichte dem Tiger aus, aktiv zu
werden. Ich war überrascht, Sie so plötzlich vor mir stehen
zu sehen.«
Mit diesen Worten drückte er ihr den Rosenstrauß in die
Hand und ließ im Beifall der Zuschauer eine ziemlich verwirrte
Carminia Brado zurück.
Noch lange beschäftigte sich die Brasilianerin in Gedanken
mit der Begegnung.
Rani Mahay hatte gesprochen, als würde er sie schon lange
kennen.
*
Edgar Laughton schlug die Augen auf. Von einem Augenblick zum
anderen war er hellwach.
Ein Geräusch!
Er hörte es ganz deutlich.
Laughton hielt den Atem an. Der Mond schien durch die Fenster der
Wohnung des dritten Stockwerkes. Wie Schemen zeichneten sich die
wuchtigen altmodischen Möbel in der vertrauten Umgebung ab.
Hier, in der James Street 354, wohnte er seit
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