Macabros 005: Die Schreckensgöttin
stillstand.
Sensationell war die Vorstellung eines siamesischen Zwillings,
eines Geschwisterpaares, das an den Hüften zusammengewachsen
war. Sie führten ein paar alltägliche Dinge durch und
zeigten damit dem Publikum, mit welchen Schwierigkeiten der normale
Tagesablauf für diese aneinander geketteten Menschen verbunden
waren. Schon wenn sie aßen, wurde ihr Zusammenleben zum
Problem. Sie waren immer zusammen, Tag und Nacht, keiner konnte sich
jemals auch nur für eine einzige Sekunde von dem anderen
freimachen. Sie waren auf Gedeih und Verderb
zusammengeschweißt. Zwischen diesen Menschen herrschte eitel
Freude, aber es gab auch Stunden, wo sie sich stritten, wo der andere
eine entgegengesetzte Ansicht vertrat. Dann mußten sie auch
zusammenbleiben.
Und es gab eine Angst, die ein anderer Mensch nicht kannte: der
eine fürchtete den Tod des anderen. Wenn der eine starb,
bedeutete dies das Todesurteil für den anderen.
Die Probleme wurden kristallklar dargelegt, nachdem die beiden
jungen Menschen, denen man eine Lebenserwartung von dreißig
Jahren zugestand, wieder gegangen waren.
Das Publikum saß still da. Nur die Stimme des als
Rummelplatzdirektor fungierenden Artisten tönte durch das hohe
Zelt, und die Menschen lauschten atemlos.
Carminia wurde wie alle anderen in den Bann dieser Darbietung
gezogen.
Zuletzt wurde eine Frau vorgestellt, die als »Wolfsfrau«
bezeichnet wurde. Der »Rummelplatzdirektor« sagte,
daß sie im nördlichen Teil des Himalaja gefangen worden
sei. Man führte sie herein wie ein Tier. Sie war halb Mensch,
halb Wolf. Der eine Teil ihres Körper war bedeckt mit einem
zottigen, dunkelbraunen Fell, das Auge hatte Raubtierform und war
bernsteingelb. Die Frau knurrte und fauchte, war außerstande,
einen menschlichen Laut von sich zu geben.
Sie war an schweren Ketten gefesselt, die an einer dicken Stange
befestigt war, welche ihre Wärter an beiden Enden hielten.
Die Wolfsfrau war wild und offenbar nicht ganz ungefährlich.
Sie machte den Eindruck einer wahnsinnigen, verwahrlosten Frau, und
der Gedanke, daß das Fell auf ihrem Körper echt sein
konnte, kam erst in zweiter Linie.
Die beiden Bewacher der Wolfsfrau standen unter
äußerster Konzentration, und Carminia fiel auf, daß
sie ihre Abnormität in der Mitte der Arena vorführten,
daß sie verhinderten, zu dicht an den Rand der Arena zu kommen.
Und sie hatten es auch sehr eilig, ihren Schützling so schnell
wie möglich wieder hinter die Kulissen zu bringen.
Der Mann, der die erklärenden Worte zu allen bisherigen
Abnormitäten gegeben hatte, faßte sich hier nach Carminia
Brados Meinung zu knapp. Es blieben viele Fragen offen. Der Sprecher
beschränkte sich auf die notwendigsten Angaben. Es schien, als
wolle man hier nähere Einzelheiten absichtlich nicht
bekanntgeben, und der Zweifel blieb, ob die Wolfsfrau wirklich echt
oder nur eine Rummelplatzsensation gewesen war, die sich hinter der
Kulisse das Fell auszog.
In der Mitte der Arena wurde nun ein freier Platz geschaffen, und
die bisherigen Aktiven zogen sich mehr an den Rand zurück und
bildeten einen Halbkreis. Hinter dem farbenprächtigen Vorhang
zum Manegeneingang war das Fauchen und Brüllen der Raubkatzen zu
hören.
Rani Mahay, der Koloß von Bhutan, wurde über
Lautsprecher angesagt.
Der Vorhang des Manegeneingangs wurde aufgezogen. Die Blicke der
Zuschauer konzentrierte sich auf den Laufgang, der unmittelbar hinter
dem Vorhang begann.
Sieben prachtvolle indische Tiger drängten sich dicht an
dicht hinter den Gitterstangen des schmalen Käfigs. Die Tiere
waren äußerst erregt.
Über die Lautsprecher meldete sich eine Männerstimme.
»Rani Mahay ist der ungewöhnlichste Dompteur der Welt. Er
arbeitet ohne jeglichen Schutz. Die Tiere werden sich in der Arena,
so wie Sie sie jetzt sehen, frei bewegen können. Wir bitten Sie:
verhalten Sie sich ganz ruhig. Die Tiere sind aufs
äußerste gereizt, sie sind noch nicht gefüttert
worden. Wir tun dies erst nach der Vorstellung, um zu beweisen,
daß Rani Mahay unter denkbar erschwerten Umständen
auftreten muß. Sie brauchen nichts zu befürchten, meine
verehrten Zuschauer. Rani Mahays hypnotische Macht führt und
leitet die Tiger. Sie brauchen keine Angst zu haben, wenn die
Raubkatzen auf dem Rande der Manege spazierenlaufen. Rani Mahay hat
sie in jedem Augenblick völlig unter Kontrolle.«
Ein Tusch ertönte.
Dann wieder die Stimme: »Empfangen Sie ihn! Den Mann, der
wilden Tieren seinen Willen aufzwingt. Rani Mahay,
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