Macabros 005: Die Schreckensgöttin
den Koloß
von Bhutan!«
Die Stimme verhallte. Und aus dem finsteren Hintergrund des
unbeleuchteten Manegeneingangs trat Rani Mahay ins Licht.
Als er an dem Laufgitter vorbeikam, fauchten die Raubkatzen. Sie
warfen ihre großen Köpfe zurück, rissen die
Mäuler auf, und die messerscharfen Gebisse blitzten im
Scheinwerferlicht.
Die Menge klatschte, als der Riese den. Mittelpunkt der Arena
erreichte. Sogar seine Landsleute klatschten, die im Halbkreis
herumstanden.
Carminia Brado hob leicht den Kopf. Ein flüchtiges
Lächeln huschte über ihre Lippen. Ja, das war der Mann, dem
sie vor dem Haus begegnet war.
In Lebensgröße wirkte er wirklich wie ein Koloß.
Er maß mindestens zwei Meter, hatte Schultern wie ein
Kleiderschrank, und seine bronzene Haut glänzte, als wäre
sie mit Öl eingerieben.
Das Licht spiegelte auf seinem haarlosen Schädel. Der
massige, beinahe quadratische Schädel war markant und
scharfgeschnitten wie eine vollendete Plastik.
Die großen dunklen Augen unter den buschigen Brauen waren
lebhaft und klug.
Rani Mahay verbeugte sich. Er trug ein Tigerfell, wie ihn das
Plakat zeigte.
Rani Mahay wandte seinen Rücken dem Publikum zu. Man sah, wie
unter der braunen Haut die Muskeln spielten.
Der Koloß von Bhutan hob ganz leicht die Rechte. Am
Armgelenk schimmerte matt ein breites, goldfarbenes Band.
Ketten rasselten.
Die Klappe, die das Laufgitter versperrte, wurde nach oben
gezogen.
Die Tiger gerieten sofort in Bewegung.
Zwei, drei stürmten sofort ins Freie, jagten wild und
fauchend in die Manege.
Die Menge schrie auf.
»Bitte, bewahren Sie Ruhe!« ertönte die Stimme in
den Lautsprechern.
Carminia Brado hielt den Atem an.
Sie merkte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden.
Der Eindruck war ungeheuerlich.
Sie hatte sich seelisch darauf eingestellt, und doch war alles
ganz anders, als es jetzt soweit war.
Sieben wilde Bestien fauchten und knurrten bösartig.
Rani Mahay wich Schritt für Schritt zurück. Es war
unvorstellbar, daß er diese aufgepeitschten, unruhigen Tiere
alle auf einmal im Blickfeld haben konnte.
Carminia spürte die Unruhe, die um sie herum wuchs. Ungeheure
Spannung lag in der Luft. Man glaubte auf einem Pulverfaß zu
sitzen.
Viele ertrugen diese Spannung nicht.
Menschen verließen ihre Plätze. Gerade in den vorderen
Sitzreihen, auf den Logenplätzen, erhoben sich Zuschauer und
wichen nach weiter hinten aus.
Die Artisten, welche das Rummelplatz-Theater vorhin gespielt
hatten, standen wie eine lebende Mauer am Rande der Arena.
Carminia registrierte mit gemischten Gefühlen die Spannung
auf den Gesichtern. Auch die Menschen, die dieses ungewöhnliche
Schauspiel nun Tag für Tag erlebten, konnten sich seinem Bann
nicht entziehen.
Die Raubkatzen wild und ungebändigt in der Manege!
Seltsame Gefühle stiegen in einem hoch.
Man fürchtete sonst bei einer Zirkusvorstellung, wenn der
Dompteur in einem Gitterkäfig agierte, daß etwas geschehen
könnte. Und wie oft war schon etwas passiert.
Aber hier war nicht nur das Leben von Rani Mahay gefährdet.
Da waren auch seine Freunde vom Zirkus, da waren vor allen Dingen die
Zuschauer.
Was würde sein, wenn Mahay versagte?
Carminia wurde in Sekundenbruchteilen von diesen Gedanken
überschwemmt.
Konnte die Direktion diese Verantwortung übernehmen?
Hier wurde ein besonders raffinierter Nervenkitzel vermittelt.
Eine solche Raubtiernummer gab es nicht ein zweites Mal in der
Welt.
Drei Tiger kamen langsam herangetrottet. Nun befanden sich alle
sieben in der Manege.
Zwei davon waren besonders unruhig. Sie tänzelten im
Kreise.
Mahay wich zurück.
Noch befanden sich die Raubkatzen alle vor ihm. Sein Kopf ging
ruckartig hin und her, als zähle er sie ab. Er hielt sich nur
wenige Schritte von Carminia entfernt auf. Die Brasilianerin sah, wie
der Schweiß zwischen seinen Schulterblättern perlte.
Wieder ein Schritt nach hinten.
Da sprang der eine Tiger, ein großes, starkes Tier mit einem
goldbraunen Fell und einer vollendet schönen Zeichnung, nach
vorn.
Rani Mahay sprang nach hinten.
Im gleichen Augenblick spurtete ein zweiter, ein dritter Tiger von
der linken Seite her los. Die schnelle Bewegung des Mannes aus Bhutan
mißverstanden die Raubkatzen offensichtlich und wurden
irritiert.
Irgend jemand im Zirkus schrie gellend auf.
Ein vielstimmiger Aufschrei folgte nach.
Und noch jemand schrie: Rani Mahay!
Der Koloß aus Bhutan gab einen wilden Ruf von sich und
rannte drei, vier weitere Schritte nach hinten,
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