Macabros 019: Im Schlund der Höllenschlange
unruhige Kerzenschein.
Lowestone lag unverändert in seinem aufgedeckten Sarg. Ein
Meer von Blumen – auch im Innern des Sargs – umgab ihn.
Der heimliche Besucher blieb drei volle Minuten am Sarg stehen,
blickte den Toten an und fühlte nach seinen Händen.
Eiskalt! Längst war die Totenstarre eingetreten. Ein
süßlicher Geruch stieg aus dem Innern des Sargs, ein
Geruch, den auch der starke Duft der Blumen nicht mehr zu
kompensieren vermochte.
Richard Lowestone war tot! Toter ging es nicht. Seine Witwe hatte
sich geirrt.
Björn hatte schon viele außergewöhnliche und
unerklärliche Erlebnisse gehabt und wüßte wie kein
Zweiter, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als
manch einer glauben mochte. Egal, was Mrs. Lowestone auch immer
gesehen hatte: ihr Gatte, der hier lag, konnte es aber auf keinen
Fall sein! Die Blumen, die im Sarg um die Leiche drapiert waren,
sahen wohlgeordnet aus. Auch ein Zeichen dafür, daß die
Leiche sich nicht bewegt hatte und nicht bewegt worden war. In der
Kürze der Zeit hätte niemand die Gelegenheit gehabt, die
Sträuße wieder zu ordnen.
Björn verließ den Raum und sah sich draußen vor
dem Haus um.
Die Festigkeit, mit der Anne Lowestone auf ihrer Beobachtung
bestand, gab ihm zu denken.
Vor dem Fenster fand er auch etwas, nämlich Spuren!
Keine Fußabdrücke, aber eine lange, ungewöhnlich
breite Schleifspur, die bis jenseits des Gatters ging. Dort war das
Gras zusammengedrückt, und die Spur endete an der grob
gepflasterten Straße.
Was hatte sich hier bewegt?
Hellmark starrte in die Dunkelheit, wo die Berge sich erhoben.
Dort hinten irgendwo lag Deadly Bluff, die verlassene Geisterstadt
aus der wilden Zeit.
Hatte Sheriff Brodnick nicht erwähnt, daß er dort eine
ähnliche, undefinierbare Spur gesehen hatte?
Was aber hatte sie mit der Erscheinung zu tun, die Anne Lowestone
auffiel und die sie als ihren unter rätselhaften Umständen
verstorbenen Gatten bezeichnete?
Die Fragen wurden nicht weniger.
*
Macabros war überrascht, und er legte auch keinen Wert
darauf, diese Überraschung zu verbergen.
Er trat Benjamin Kennan entgegen, der ihn aufmerksam musterte,
ohne die Zigarre aus seinem Mund zu nehmen.
»Sind Sie ein Hellseher, Mister Kennan, da Sie wußten,
daß ich hier bin?« fragte Macabros.
»So möchte ich es nicht bezeichnen, Mister
Hellmark.« Der alte Mann mit dem energischen Kinn und den klugen
Augen wandte nicht den Blick von ihm. Es schien, als wolle er sich
jedes Detail an diesem Körper, in diesem Gesicht einprägen.
Merkte er etwas, drängte sich Macabros die Frage auf. Und er
stellte sie sich zum ersten Mal. Es gab keinen Unterschied zwischen
dem Original- und dem Zweitkörper Hellmarks. Es war
unmöglich, einen zu erkennen.
»Wie möchten Sie es dann bezeichnen, Mister
Kennan?«
»Eine Art Vorahnung, wissen Sie.«
»Sie wußten, daß Sie mich hier treffen
würden?«
»Das wußte ich nicht, nur eines: heute nacht würde
ich eine Begegnung haben, und sie würde hier stattfinden.
Daß Sie es wären, konnte ich nicht ahnen.«
»Interessant. Haben Sie öfter solche
Vorahnungen?«
»Ja, sehr oft. Ich sehe dann bestimmte Dinge vor mir und
könnte sie sogar greifen.«
»War dies auch so, als Sie seinerzeit unangemeldet hier auf
der Farm auftauchten, damals vor dreißig Jahren. Haben Sie
gewußt, daß Mrs. Lowestone ihr Kind verlieren
würde?«
Jetzt nahm Kennan doch die Zigarre aus dem Mund. »Ich sehe.
Sie sind erstaunlich gut informiert.«
Macabros sagte: »Mrs. Lowestone hat davon gesprochen. Wir
sollten offen zueinander sein, vielleicht ist das der Grund
dafür, daß wir uns hier treffen, obwohl wir uns heute nur
flüchtig kennenlernten. Vielleicht ist diese Begegnung wichtig
– für Sie und für mich.«
Kennan nickte bedächtig. »Das kann sein. Das weiß
man nie vorher, wenn man jemand kennenlernt. Das Schicksal wirft oft
merkwürdig die Würfel. Noch ein Wort zu dieser alten
Geschichte. Für Anne mag es in der Tat so sein, als würde
immer dort, wo ich auftauche, etwas Unangenehmes, etwas Schreckliches
passieren.«
»So war es doch auch immer gewesen. Ich erinnere Sie an den
Ausbruch des Feuers.«
»Ich ziehe das Unglück nicht hinter mir her. Man darf
Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Ich weiß vorher davon.
Jedesmal eilte ich hierher, egal wo immer ich mich auch aufhielt, um
zu warnen. In jener Nacht, als wir uns nach langer Zeit wiedersahen,
als Anne ihr Kind unter dem Herzen trug, teilte ich
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