Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
ihm
wurde.«
Manuel Sallas schluckte. Seine Schwester wirkte sehr ernst.
»Sie selbst haben Runscheer nie gesehen, behaupten Sie. Haben
Sie je eine seltsame Geschichte gehört, die Sie dazu
veranlaßt hat, sie in irgendeiner Form in ein Bild
umzusetzen?«
»Nicht, daß ich mich da erinnern könnte.«
»Fest steht auf alle Fälle folgendes: Sie haben etwas in
ein Geschehen umgesetzt, von dem niemand weiß, wie es zustande
kam. Ich habe in Runscheer die alten Leute gefragt, ob sie aus ihrer
Kindheit und Jugendzeit irgendwelche Erzählungen von einem Haus
kennen. Viele wußten, daß ein altes Bauernhaus genau der
Laterne gegenüber gestanden haben soll. Aber das muß schon
lange her sein. In der Chronik des Ortes findet sich eine
rätselhafte Geschichte vom Baumann-Haus. Es soll eines Tages
nicht mehr da gewesen sein. Näheres wird nicht erläutert.
Was haben Sie gesehen, Señor Sallas, als Sie jene Szene
malten?«
»Mein Bild spricht für sich«, entgegnete der Maler.
»Ich kann dazu nichts weiter sagen. Ich erlebe es so, wie ich es
male.«
»Dieser götzenähnliche Moloch – Sie haben ihn
wirklich gesehen?«
Manuel Sallas fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Ich weiß nicht…« sagte er ausweichend.
»Vielleicht… ich weiß es nachher nie.«
Er zuckte die Achseln und vertiefte sich wieder in die Fotos.
Eine Viertelstunde drehte sich alles nur um diese eine Aufnahme
und um das Vergleichsbild, das Sallas angeblich im Traumzustand
gemalt hatte.
Manuel Sallas hatte eindeutig einen tatsächlich existierenden
Dorfwinkel dargestellt und ihn mit einem ungeheuerlichen
phantastischen Geschehen verknüpft. Fest stand, daß in
Runscheer – laut Chronik – ein Haus aus dem Jahr 1703
verschwunden war. Wie es dazu gekommen war, darüber existierten
keine Zeugenaussagen. Mit rechten Dingen jedenfalls war es nicht
zugegangen.
Mit rechten Dingen aber auch schien das Traumbild Sallas’
nicht entstanden zu sein!
Dieser unheimliche Koloß im Hintergrund, der aus dem dunklen
Winterhimmel ragte, war wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Alle Bilder Sallas’ brachten das Fremdartige, Unvorstellbare,
als hätte er als einziger Dinge gesehen, zu denen andere keinen
Zugang hatten.
Wenn Sallas träumte und schlief, überwand er dann Raum
und Zeit, empfing er dann wie ein hochempfindliches Radiogerät
ferne Wellen, die er – in Bilder umsetzte?
Renion war dem Glauben verhaftet, daß alles, was auf dieser
Erde geschah, in irgendeiner Form seine Spuren hinterließ. Auch
Ereignisse, die noch auf einen zukamen, waren in irgendeiner Form
schon latent vorhanden, wenn auch nicht sichtbar. Menschen mit einem
sechsten Sinn oder dem Zweiten Gesicht hatten oft vorausschauende
Talente.
Manuel Sallas war ein solch ungewöhnlicher Mensch, der
mehrere Veranlagungen gleichzeitig in sich vereinte.
Der Kunstkritiker wollte etwas sagen. Dann sah er aber, wie Sallas
winkte.
Seine Schwester griff sofort nach seinem Arm.
»Setz dich«, sagte sie schnell. »Ich glaube, es ist
soweit«, fuhr sie, zu Jean Baptiste Renion gewendet, fort.
»Sie können ihn bei der Arbeit alles fragen. Er gibt
Antwort und arbeitet dennoch weiter. Er weiß nachher nicht
mehr, was er alles gesagt hat, und es wird auch keinen Sinn mehr
haben, ihn dann noch mal daraufhin anzusprechen. Seine Hinweise im
Schlafzustand sind genauso zu nehmen wie seine Bilder: als
Botschaften, die er nicht erklären kann. Er malt nur noch ab, er
ist Empfänger. Wir wissen nicht, was sie ausdrücken und
woher die Einflüsse stammen. Ihr Besuch und Ihr Gespräch,
Señor Renion, aber zeigen mir, daß Manuel ernstgenommen
werden muß. Seine Scheu vor der Öffentlichkeit, sein
ruheloses Wandern von einem Ort zum anderen haben ihren Grund sicher
auch darin, daß er die Konfrontation mit Andersdenkenden und
-fühlenden fürchtet. Er ist ein hochsensibler Mensch, er
fürchtet, ausgelacht zu werden – und hatte doch immer die
Hoffnung, daß irgendwann mal einer kommt, der die Dinge
ähnlich sieht wie er. Manuel hat nie viel über seine Arbeit
gesprochen. Seit er angefangen hat zu malen – so zu malen,
daß man ihn nicht mehr versteht –, hat er erwartet,
daß man anfangen würde, nachzuprüfen und
herauszufinden. Sie sind der erste, der an einem Punkt angelangt ist,
der über das übliche Interesse hinausgeht und der
nachweisen kann, daß mit Manuel etwas vorgeht, was wir alle
nicht begreifen.«
Sie nahm ihrem Bruder die Fotos aus der Hand.
Manuel Sallas setzte sich auf den
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