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Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren

Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren

Titel: Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Shocker
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erklärte sie.
    Immer hätte er in diese großen Augen sehen wollen. Das
liebliche Gesicht erinnerte an die zarten Marmorstatuen Celinis.
Feine, vornehme Züge, die von einer strengen Frisur eingerahmt
wurden, ein sinnlicher Mund…
    Jean Baptiste Renion lächelte, und sie erwiderte dieses
Lächeln. Für einen Außenstehenden wäre die
Situation nicht leicht zu deuten gewesen: Ein junger Mann aus Paris,
von Beruf Kunstkritiker, fährt in ein spanisches
Pyrenäendorf, um zu vorgeschrittener Stunde von einem netten,
etwa zweiundzwanzigjährigen Mädchen empfangen zu werden,
das er noch nie gesehen hat…
    Dieser Besuch aber galt nicht der Schönen, sondern deren
Bruder, einem bekannten Maler surrealistischer Bilder. Die Kritiker
nannten ihn enthusiastisch einen neuen Hieronymus Bosch, der die
Phantasie des alten Holländers mit einer etwas eigenwilligen,
subtilen Maltechnik verband.
    Manuel Sallas war menschenscheu. Nie hatte man ihn auf seinen
Ausstellungen, die inzwischen in Spanien und Frankreich Furore
machten, gesehen. Ein Geheimnis umgab den Maler mit dem
’magischen Pinsel’, wie man ihn nannte.
    Ein schmaler, schwach beleuchteter Korridor folgte. Aus der nahen
Küche roch es nach kaltem Fisch.
    Neben der Tür hing ein wunderbares Farbbild, das sofort
Renions Aufmerksamkeit auf sich zog.
    »Eine neue Arbeit?« fragte er, davor stehenbleibend. In
klaren, leuchtenden Farben breitete sich eine Landschaft auf der
Leinwand aus, deren bizarrer Formenreichtum ihn sofort
gefangennahm.
    »Nein, ein altes Bild«, sagte Janina Sallas.
    »Ich habe es noch nie gesehen. Auf keiner der bisherigen
Ausstellungen. Es hätte zum Thema ’zwischen Traum und
Wachen’ oder ’Visionen’ ausgezeichnet
gepaßt.«
    In den beiden, von Jean Baptiste Renion genannten Ausstellungen
war ein Großteil von Sallas’ Werk aus neuerer Zeit gezeigt
worden. Sallas hätte ein reicher Mann sein können. Seine
Bilder waren gefragt, aber er verkaufte so gut wie nichts. Er stellte
aus, damit die Menschen seine Gemälde sehen konnten, er
ließ Kunstdrucke und Bücher herausgeben mit Reproduktionen
– aber es gab so gut wie kein Werk in Privatbesitz, obwohl es
Kaufangebote in Hülle und Fülle gab.
    Manuel Sallas lebte wie ein Einsiedler, und die Tatsache,
daß Renion bei seinem Besuch auf eine jüngere Schwester
des Künstlers stieß, zeigte, wie wenig man über
Sallas und sein Werk wußte.
    »Bitte, Señor, folgen Sie mir!« Janina Sallas
ging dem Besucher voran. Am Ende des Korridors führte eine
schmale, gewundene Holztreppe in das Geschoß unter dem Dach.
Dort oben hatte Manuel Sallas sein Atelier.
    Es war wenige Minuten nach neun Uhr abends.
    Pünktlich auf die Minute war Renion eingetroffen. Ab neun
sollte er kommen. Vor zwei Tagen schon war er von Paris angereist,
hatte sich unten im Dorf eingemietet und machte sich mit der fremden
Umgebung vertraut, um das einsame Haus Sallas’ auch bei
Dunkelheit zu finden.
    Das Wenige, was man von dem Künstler wußte, war,
daß er seine geheimnisvollen Bilder, die ein solches Interesse
weckten und die Betrachter beschäftigten, nur bei
künstlichem Licht malte.
    Anläßlich seiner letzten Ausstellung, die vor drei
Monaten in Paris gewesen war, hatte Sallas ein Begleitheft
herausgegeben und in einem erklärenden Vorwort darauf
hingewiesen, daß seine »Erlebnisse« besonderer Art
seien. Wort für Wort hatte Jean Baptiste Renion sich das
eingeprägt. Sallas behauptete, daß er für seine
Arbeit besondere Stunden abwarten müsse, daß das meistens
abends der Fall sei und daß er dann oft mit sehr wenig oder
überhaupt keinem Licht arbeite. Er führe den Pinsel wie ein
Schlafwandler und sei selbst am meisten über das fertige
Ergebnis überrascht. Diese Bemerkung und ein besonderes Erlebnis
hatten Renion veranlaßt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um
den derzeitigen Aufenthaltsort des Malers ausfindig zu machen und ihm
zu schreiben.
    Vor drei Monaten hatte ein Briefwechsel begonnen, der ohne
Beispiel war.
    Sallas, der geheimnisvolle Bilder malte, ohne eine eigentliche
Erinnerung an den Schöpfungsprozeß zu haben, hatte dem
französischen Kunstkritiker auf eine merkwürdige Frage eine
merkwürdige Antwort erteilt und ihm schließlich die
Erlaubnis gegeben, selbst mal dabei zu sein, wenn ein Bild wie eine
Vision entstand.
    Renion war aufgeregt wie ein kleiner Junge, der einem Geheimnis
auf der Spur war, als er jetzt der hübschen Janina folgte.
    Auf dem Treppenabsatz blieb die attraktive Spanierin stehen

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