Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
und
wartete, bis Renion auf gleicher Höhe mit ihr war. Direkt vor
ihnen befand sich eine Tür. Eine altmodische Flurleuchte hing
wie ein Pendel so tief von der Decke herab, daß Jean Baptiste
Renion den Kopf einzog, um nicht dagegen zustoßen.
»Ich hoffe, er schläft noch nicht«, sagte Janina
Sallas leise, ehe sie vorsichtig die messingfarbene Klinke
niederdrückte.
Jean Baptiste Renion hätte zu gern die Gelegenheit benutzt,
mit der jungen Spanierin ein angeregtes Gespräch zu führen.
Er hatte keine Schwierigkeiten, mit Fremden Kontakt zu knüpfen
und war nie um ein Gesprächsthema verlegen, aber seltsamerweise
fiel es ihm hier in diesem Haus schwer.
Sallas malte im Schlaf, und Jean Baptiste Renion sollte der erste
Außenstehende sein, der ihm dabei zuschauen durfte. Und alles
nur wegen einer simplen Fotografie, die er vor einem Vierteljahr
gefunden hatte…
Unwillkürlich warf er einen Blick auf die schmale, lederne
Aktenmappe, die er in der Hand hielt und in der sich verschiedene
Unterlagen befanden, die er mitgebracht hatte.
Seine Aufmerksamkeit wurde in Beschlag genommen, als Janina die
Tür öffnete. Der Raum dahinter war klein, hatte
schräge Wände und war über und über mit Bildern
und Skizzen behängt.
»Manuel?« fragte Janina Sallas leise.
»Ja. – Ist er gekommen?« klang die Frage aus dem
dämmrigen Zimmer.
Über den Kopf der Spanierin hinweg erblickte der junge Mann
aus Paris eine Gestalt, die in der schattigen Nische neben einem
winzigen, vergitterten Fenster saß. Vor sich hatte der Mann
eine Staffelei, und darauf stand eine leere Leinwand.
Im Zimmer brannte nur eine Kerze.
Das flackernde Licht spielte auf dem Gesicht des menschenscheuen
Malers.
Jean Baptiste Renion versuchte, sich gelockert und frisch zu
geben, wie es seine Art war. Aber in dieser Atmosphäre gelang es
ihm nicht, und er meinte, ein Zentnergewicht hinter sich herschleifen
zu müssen, als er nach Janina den Raum betrat.
Manuel Sallas sah ihn an. Ein bleiches Gesicht, umrahmt von einem
gepflegten Backenbart, dichtes, gelocktes Haar.
Sallas erhob sich beim Eintritt seines Gastes.
»Señor Renion«, sagte er, eine leichte Verbeugung
andeutend und dem Franzosen die Hand reichend. »Ich freue mich,
daß Sie gekommen sind.«
»Die Freude ist ganz meinerseits!« Renion reagierte
steif und ärgerte sich, daß ihm nichts Besseres
einfiel.
»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen…«
»Aber ich bitte Sie, Señor. Wofür denn?«
»Daß ich Sie zu mir bringen lasse, daß ich Sie
nicht unten am Haus begrüßt habe, wie es meine Pflicht
gewesen wäre. Aber in diesen Tagen… ich muß
ständig damit rechnen, daß ich das Bewußtsein
verliere. Ich schlafe dann auf der Stelle ein, ohne mich dagegen
wehren zu können. Ich habe Angst, dann hinzufallen und mich zu
verletzen. Wenn man es weiß, unterläßt man es
lieber.«
»Natürlich!« Wie hölzern das klang! Dabei
begriff er noch gar nichts.
»Bitte, nehmen Sie Platz!« Manuel Sallas deutete auf ein
altes Sofa, das an der Wand stand. Es hatte verschnörkelte Beine
und einen geblümten Stoffbezug.
»Danke.«
»Ich nehme an, von dieser Stelle aus können Sie alles
sehen, wenn ich zu malen anfange.«
Renion nickte nur.
»Haben Sie es dabei?« fragte Manuel Sallas unvermittelt.
Er sprach ruhig und gelassen, und nichts Gekünsteltes haftete
seinem Wesen an.
Jean Baptiste Renion mußte sich im stillen eingestehen,
daß er sich von Sallas ein ganz anderes Bild gemacht hatte. Er
hatte ihn sich als verschrobenen, weltfremden Sonderling vorgestellt,
viel älter vor allen Dingen, ein unzugänglicher Mensch, mit
dem es schwierig sein würde, ein paar Worte zu reden.
Sallas war Ende dreißig, hatte eine angenehme Stimme und
plauderte frisch von der Leber weg.
Der Franzose öffnete die Ledertasche. In einer dunkelblauen
Plastikhülle steckten mehrere großformatige Farbfotos. Von
einer ganz bestimmten Arbeit Sallas’ hatte Renion diese
Aufnahmen machen lassen. Die Fotografien zeigten alle die gleiche
Arbeit. Einige stellten Ausschnittsvergrößerungen dar.
Es war eine etwas märchenhaft anmutende Szene.
Der Betrachter sah ein Straßenbild. Eine alte Stadtansicht,
mitten im Winter.
Ein verträumter, stiller Winkel. Winter. Schnee lag in der
Gasse und auf den Dächern. Eine Laterne spendete anheimelndes
Licht. Die Fenster waren beleuchtet. Deutlich waren die Silhouetten
der Menschen zu sehen.
Eine Familie saß am Tisch. Das Haus im Vordergrund schwebte
über dem Boden.
Hinter
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