Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
Korbstuhl.
Wie in Trance griff er nach dem Pinsel auf dem Ablagebrett.
Renion hielt den Atem an. Etwas lag in der Luft, er konnte nicht
sagen, was es war. Er fühlte es nur wie eine elektrische
Spannung über seine Haut laufen.
Er nahm den Platz ein, den Manuel Sallas ihm bereits vorhin
angeboten hatte. Mechanisch legte er die Fotos und die Lederakte zur
Seite.
Sallas’ Blick war auf das kleine vergitterte Fenster
gerichtet. Er griff mit der Linken danach, drückte den Haken
zurück und öffnete es.
Kühl und feucht war die Nachtluft, die in die Dachkammer
drang.
Die brennende Kerze flackerte heftiger, und für einen Moment
fürchtete Renion, sie würde verlöschen.
Manuel Sallas befand sich in Trance. Er hatte die Augen
geöffnet, aber er schien seine unmittelbare Umgebung nicht
wahrzunehmen.
Sein Blick war auf einen imaginären Punkt in einer
unwirklichen Ferne gerichtet. Wie von selbst glitt der Pinsel
über die Leinwand, tauchte in die Farbe und hinterließ
erste Spuren auf der weißen Fläche.
Renion hielt den Atem an. Janina Sallas neben ihm wurde Zeuge des
gleichen Schöpfungsvorgangs.
Sallas sah in dem winzigen, geöffneten Quadrat etwas, das nur
seine Augen wahrnahmen: die Umrisse einer Höhle. Wolkige
Finsternis, in der die Farben blau und violett dominierten.
Das Innere eines Tempels wurde sichtbar. Sallas malte wie ein
Besessener und legte keine Pause ein. Schnell und sicher erfolgten
seine Striche.
Klare Umrisse, ausgezeichnete Figuren…
Fremdartige, götzenähnliche Gestalten erstanden auf dem
Hintergrund wie auf einem Relief.
Unheimliche Fratzengestalten zeigten sich. Wie ein riesiger,
nackter Buddha thronte im Tempel eine Gestalt, die Renion nicht fremd
vorkam. Sie ähnelte eindeutig jenem Götzen, der das
winterliche Straßenbild »13. Dezember 1726«
beherrschte.
»Sie können Fragen stellen«, wisperte Janina.
»Er weiß nichts mehr von unserer Gegenwart, aber er wird
hören, was Sie sagen.«
»Was sehen Sie. Señor?« begann Jean Baptiste
Renion rauh.
»Einen Tempel.«
»Wo befindet sich dieser Tempel?«
»Ich weiß nicht. Aber er ist wichtig wichtig für
uns.«
»Wie kann ich das verstehen?«
»Weiß nicht…«
»Wird in diesem Tempel jener Götze verehrt, dem Sie
plötzlich einen großen Raum auf Ihrem Bild
geben?«
»Es ist – kein Götze. Er beherrscht die Welt. Ich
sehe ihn, wie er spricht und gestikuliert. Da ist noch etwas –
kommt auf ihn zu. Ein Mensch – er hat Angst, will dort nicht
sein, kann aber den Tempel aus eigener Kraft nicht
verlassen.«
Der Pinsel tauchte in das Rot, in das Grün. Umrisse einer
Gestalt, die ein Kostüm trug. Eine Frau. Jung, attraktiv, zu
Tode erschreckt wich sie vor dem buddhaähnlichen Koloß
zurück.
Im flackernden Kerzenlicht sah Renion ein schönes Gesicht,
klar und deutlich wie auf einer Fotografie, als halte Sallas wie ein
Film den Eindruck fest.
»15. Oktober 1973«, sagte Manuel Sallas mit belegter
Stimme.
Es war das heutige Datum.
»Carmen im Tempel Orlok«, fuhr Sallas dumpf fort, seine
Hand mit dem Pinsel fiel herunter und hinterließ einen
häßlichen breiten Strich auf der Leinwand.
*
»Manuel!« Mit einem Aufschrei warf Janina Sallas sich
nach vorn. Ihr Bruder drohte vom Stuhl zu fallen.
Ein plötzlicher, unerwarteter Schwächeanfall…
Das Mädchen reagierte schnell genug. Manuel Sallas fiel in
ihre Arme.
Sie drückte ihn langsam zurück.
Wie aus einem Bann löste sich Renion aus der Erstarrung und
war mit einem Sprung neben der jungen Spanierin.
»Was ist mit ihm?« fragte er.
»Ich – ich weiß nicht.« Janina Sallas war
kreidebleich. »Ich habe noch keine Sitzung versäumt –
aber das ist noch nie passiert.«
Sallas’ Puls raste, sein Herz schlug, als wolle es die Brust
sprengen. Der Mann stöhnte, und Schweiß rann über
sein Gesicht.
»Orlok – anzarra, narkg kirum aii«, kam es stockend
über seine Lippen.
Janina Sallas zuckte zusammen. »Was ist das für eine
Sprache?« fragte sie entsetzt.
Jean Baptiste Renion zuckte die Achseln. Nie zuvor hatte er
ähnlich schreckliche Laute vernommen.
Manuel Sallas zitterte am ganzen Körper. Seine Augenlider
flatterten. Sein Blick war in unwirkliche Ferne gerichtet.
Plötzlich entspannte er sich, und das Zittern verschwand.
»Wo – bin ich?« fragte er schwach und blickte sich
gehetzt um.
»Es ist alles gut. Manuel.« Janina Sallas atmete tief
durch.
In die Augen des Malers trat ein Leuchten. Er erkannte seine
Umgebung, hörte die Stimme
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