Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
Buddha hockte er da, und
Carmen mied es, ihren Blick dorthin zu wenden.
Ihre aufgewühlten Gedanken drehten sich wie ein
Karussell.
Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und stolperte
durch die wolkige Finsternis auf eine Säule zu, auf der
ebenfalls die Gestalten dicht ausgearbeitet waren.
Die Oberfläche der Gestalten fühlte sich trocken und
spröde an, wie gegerbtes, morsches Leder, schoß es ihr
durch den Kopf.
»Wie gefallen dir meine Kunstwerke?« klang
spöttisch die Frage auf.
»Was willst du von mir?« preßte Carmen hervor,
ohne auf diese seltsame Frage einzugehen. »Warum hältst du
mich hier fest? Wo bin ich?«
»Ich werde dir deine letzte Frage zuerst beantworten. Du bist
in Orloks Reich, im Tempel der Toten. Alle, die hierherkamen –
freiwillig oder nicht – sind geblieben, und ihre wahren
Gesichter und Körper habe ich in den Reliefs erhalten. Sieh dir
die Säule genau an, sieh sie dir an!«
Carmen de Silva wollte nicht, aber sie tat es. Eine kalt Hand
griff nach ihrem Herzen. Unter vielen unbekannten fremden Gesichtern
registrierte sie zwei vertraute.
»Mutter! Vater!« entrann es ihren Lippen.
Auch ihre Gesichter, ihre Leiber waren hier auf der Säule
verewigt. Lebensecht waren sie nachgebildet. Alle Opfer, die Orlok je
gerufen oder geholt hatte, zierten auf diese Weise sein
geheimnisvolles, unheimliches Reich der Toten.
»Auch du wirst dich dort bald sehen können. Der
Zeitpunkt ist nicht mehr fern. Ich könnte sofort deine Seele
austauschen und deinen unbrauchbaren Körper als Modell für
meine Reliefs benutzen. Aber ich tue es nicht. Mit dir habe ich etwas
Besonderes vor! Ein Spiel, meine Liebe…«
Das Lachen schnitt wie ein Rasiermesser in ihre Haut. »Du
wirst mein Lockvogel sein. Mein Lockvogel für Hellmark. Er
wollte wiederkommen. Diesen Glauben will ich ihm lassen. In
Wirklichkeit wird er aber in dem Augenblick, da er diesen Tempel
betritt, selbst schon ein Verlorener sein, ohne es auch nur im
geringsten zu ahnen. Er will eine Mission ausführen, etwas von
hier holen und gleichzeitig verhindern, daß es zukünftig
zu Zwischenfällen jener Art kommt, wie du sie beobachtet und
erlebt hast. Er will Menschenleben retten. Er wird aber auf
verlorenem Posten kämpfen. In diesem Augenblick liegt er hilflos
in einem Krankenhaus. Ich kann ihn sehen.«
Unwillkürlich drehte Carmen de Silva den Kopf und blickte in
Richtung des unheimlichen Tempelherrn, der vor ihr saß und
gegen den sie sich vorkam wie ein Insekt.
Orlok nahm die ganze Schmalseite seines Tempels ein. Vor ihm
plätscherte ein Brunnen. Die runden großen Augen des
unmenschlichen Ungetüms waren herabgesenkt, als beobachte er
dort etwas Bestimmtes.
»Willst du deinen Retter auch sehen, der sich nicht retten
kann?«
Carmen de Silva wankte durch die wolkige Düsternis auf den
Koloß zu.
Links vor Orlok befand sich der Brunnen.
Eine bläulich-weiße Fontäne stieg hoch und brach
zusammen. Das Wasser glättete sich.
Carmen de Silva stand am Rand des Brunnens, blickte in die Tiefe
und sah einen winzigen, grell leuchtenden Punkt, der rasch
größer wurde.
Es war, als ob sich eine Blende öffne, und das Mädchen
würde von oben durch das gläserne Dach eines Hauses
sehen.
Spanische Menschen! Gesichter, die ihr nicht fremd waren. Ein
Krankenhaus, ein Krankenzimmer. Darin lag ein Mann, der an eine
Infusion angeschlossen war.
Das war der Fremde, dem sie auf der Brücke nach Finjas
begegnet war.
Björn Hellmark!
Eine Schwester öffnete die Tür, kam herein,
überprüfte und warf einen Blick auf den Kranken. Sie
fühlte dessen Puls. Mit ernster Miene verließ sie das
Zimmer.
»Er ist noch sehr schwach, aber das kann sich bei ihm schnell
ändern. Man muß das Eisen hier schmieden, solange es
heiß ist«, sagte Orlok mit dumpfer Stentorstimme.
»Ich werde ihm jemand schicken, der ihm hübsche Injektionen
gibt. Ich könnte ihn jetzt von dort holen, wie ich dich und die
anderen geholt habe. Aber das wäre zu einfach. Saionan –
bist du bereit?«
Aus der wolkigen, glimmenden Düsternis löste sich eine
Gestalt, die auf den Brunnen und Carmen de Silva zukam.
Ein bleichgetünchter Untoter mit häßlichem
Gesicht, tiefliegenden Augen und schmalen Lippen. Die Haare hingen
strähnig am Kopf herab und fielen bis auf die Schultern.
Schlaffe, ausgemergelte Brüste hingen faltig zwischen den
Fetzen, die irgendwann mal ein Gewand gewesen waren.
»Ja, ich bin bereit«, sagte die Gerufene mit
Grabesstimme.
»Du hast dir die
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