Macabros 027: Totenbarke nach Xantilon
bin hierher gekommen, in der Hoffnung, daß Sie mir
einen Rat geben können, eine Erklärung, Doc«, fuhr er
fort. »Ich sehe, daß das nicht der Fall ist. Ich hatte den
Wunsch, mit jemand zu sprechen, der mich genau kennt…«
Samuel Warlock fiel ihm ins Wort: »Also bedrückt Sie das
Erleben doch, obwohl Sie es vorhin noch abstritten, Fred?«
»Nein, es ist keine Besorgnis – oder doch, auf andere
Weise allerdings, als ich es Ihnen plausibel machen kann,
Doc…«
»Versuchen Sie es wenigstens!«
»Es ist vielleicht so: Ich sorge mich nicht um die Tatsache,
daß ich diese Dinge empfange… Ich sorge mich um die
Schicksale der Menschen, die dem Grauen einer Welt ausgesetzt sind,
dem sie nicht gewachsen sind… ich möchte ihnen helfen. Es
muß doch einen Sinn ergeben, daß ausgerechnet ich diese
Bilder empfange, daß ausgerechnet ich davon weiß. Was
soll ich tun, Doc?«
»Gehen Sie nach Hause, Fred! Unternehmen Sie nichts –
auch wenn Sie glauben, etwas tun zu müssen! Sie müssen sich
vor allen Dingen von dem Gedanken freimachen, in jene Zeit reisen zu
wollen, aus der Sie die Eindrücke empfangen. Das geht nicht, das
ist ausgeschlossen. Der Gedanke daran – diesen Eindruck habe ich
besonders gewonnen – läßt Sie einfach nicht
los.«
»Sie haben recht, Doktor.«
»Und gerade das kann zu einem Wahn führen, Fred.
Hüten Sie sich davor!«
»Das ist einfacher gesagt als getan, Doc. Ich will nicht in
die Zeit reisen, ich muß… Zunächst in Gedanken. Aber
seit ich hier bin, ist ein Gefühl in mir wachgeworden, das ich
Ihnen noch nicht mitgeteilt habe, und das ständig stärker
in mir geworden ist. Es ist der Gedanke, daß mein Leben, mein
Schicksal auf eine unerklärliche Weise mit dem Leben und dem
Schicksal jener Menschen verbunden ist, von denen ich Ihnen berichtet
habe. Mit ihrem Schicksal wird sich auch das meine
erfüllen.«
Er nickte und sah nachdenklich aus. Er reichte dem Gehirnchirurgen
die Hand und verabschiedete sich. Warlock machte ihn noch darauf
aufmerksam, daß er den Fall näher untersuchen wolle, und
bestellte ihn aus diesem Grund in die Klinik, wo er sich morgen
früh einfinden sollte.
Fred Reedstone sagte weder ja noch nein, und Warlock war sicher,
daß der Mann ihn überhaupt nicht gehört hatte. Seine
Gedanken durchpflügten wohl eine andere Welt.
*
Dr. Samuel Warlock blickte aus dem Fenster und sah, wie sein
Besucher das Haus verließ. Nur wenige Schritte vom Eingang
entfernt parkte ein Chrysler älterer Bauart. Seit seinem Unfall
hatte Reedstone sich auf kein Motorrad mehr gesetzt.
Der Chirurg sah, wie Reedstone startete. Er verhielt sich
umsichtig im Verkehr, und der Wagen machte keinen Satz nach vorn,
sondern rollte ruhig an.
Der Fahrer fädelte sich in den fließenden Verkehr ein,
und schon eine halbe Minute später konnte der Arzt nicht mehr
erkennen, welche der roten Rücklichter zu dem Fahrzeug
Reedstones gehörten, die sich die Highway
hinaufschlängelten.
Nachdenklich schloß Warlock das Fenster, schenkte sich noch
einen Whisky ein und zündete dann eine Zigarette an. Tief
inhalierte er.
Er ging durch die Wohnung. Das Hausmädchen hatte vor einer
Stunde schon das Apartment verlassen. Nach der Ankunft Reedstones
bestand Warlock darauf, nicht gestört zu werden.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
»Essen steht im Kühlschrank. Gruß,
Sally.«
Warlock nahm sich die Silberplatte, die mit einer Folie abgedeckt
war. Frisch belegte Wurst- und Käsebrote, grüne
Paprikastreifen und Tomatenscheiben lagen darauf.
Warlock begann zu kauen. Aber obwohl die Abendbrotzeit längst
verstrichen war, wollte sich kein rechter Hunger bei ihm
einstellen.
Immer wieder warf er einen Blick auf seine Uhr.
Kurz vor zehn. Zu spät, um noch in der Klinik anzurufen, zu
früh, um es in der Wohnung des Kollegen Jackson zu versuchen. Um
diese Zeit war er von der Klinik unterwegs in seine Wohnung.
In zehn Minuten aber konnte er es versuchen.
Lustlos kaute er auf seinem Brot herum, schob Paprikastreifen und
Tomatenscheiben zwischen seine Zähne.
Das Warten kam ihm vor wie eine Ewigkeit.
Eine alte Uhr im Wohnzimmer begann zu gongen. Zehnmal.
Warlock erhob sich sofort, ging zum Telefon und betätigte die
Wählscheibe. Es klingelte viermal. Dann wurde abgehoben.
»Yeah?« fragte jemand in breitem Texanisch. Jackson
konnte seine Herkunft schlecht vertuschen.
»Warlock hier, Dean.«
»Man meint, du hättest Röntgenaugen«, bekam er
zu hören. »Ich bin gerade erst angekommen. Kaum trete
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