Macabros 035: Mirakel, Mann der Geheimnisse
dem seinen nahe. Er spürte kaum merklich das
zarte Fleisch ihrer duftenden Lippen auf seinem Mund, ihren
Körper, der sich sanft und doch fordernd an ihn drängte.
Ihre Nähe erregte ihn und machte seine Sinne taub für alles
andere.
Und wenn er träumte, was war schon dabei? Er würde
diesen Traum bis zur Neige auskosten.
»Du bist nicht wirklich«, wisperte er.
»Dann faß mich an!«
Er legte seine Hände um ihre Hüften. Sie ging einen
halben Schritt weiter vor, und ihr Körper schien sich zu
spannen.
»Ich fühle, du atmest. Du kannst keine
Geistererscheinung, kein Spuk sein… ich werd’
verrückt, ich weiß nicht, was ich noch glauben
soll.«
»Denk nicht soviel!«
Sie richtete die Augen zu ihm empor, und sein Blick versank in dem
schimmernden Leuchten ihrer Pupillen. Er fühlte sich endlos weit
fortgerissen von dieser Erde – ihn schwindelte.
Da war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Die Macht, die aus ihrem
Willen brach, bohrte sich in sein Denken, ergriff von ihm vollends
Besitz, und er glaubte zu schweben. So leicht war ihm mit einem Mal
alles, so selbstverständlich.
»Du möchtest dort sein, wo ich herkomme, wo ich mich
jetzt aufhalte«, sagte sie lockend, und ihre Stimme becircte
ihn, als hätte er eine Droge genommen. »Das kannst du, wenn
du es nur willst. Du wirst für immer bei mir sein.«
»Ja, das will ich.«
»Du wirst alles tun, was ich von dir verlange?«
»Ja, alles…«
Und er war tief überzeugt davon, daß es überhaupt
nichts mehr gab, was er nicht tun würde.
Schön, verführerisch und seine Sinne betörend,
tauchte sie hier auf, um ihn mitzunehmen. Und er war bereit, ihr zu
folgen. Nicht die geringste Gegenwehr wurde in ihm wach. Sie
beherrschte ihn vollends. Es war ihr teuflischer Wille, der jede
Logik, jedes klare Nachdenken bei ihm unterdrückte. Doch das
erkannte er nicht. Wie ein Vampir in der Nacht tauchte sie hier auf,
um ihn zu einem ihrer Sippe zu machen. Auch das begriff er nicht.
Sie drückte ihm etwas in die Hand, und er griff danach.
»Es gehört dir. Tu, was ich dir sage, und ich werde nie
mehr von deiner Seite weichen…«
Er hob seine Rechte, um zu sehen, was sie ihm gegeben hatte.
Es war ein kleines scharfes Messer mit einem dunkelgrünen
Jadegriff.
»Schneide dir die Pulsadern auf«, forderte sie mit ihrer
betörenden Stimme.
Und er konnte nicht anders, als ihr gehorchen.
*
»Herr Kassner ist noch nicht unten?« wunderte der
Portier sich, als das Serviermädchen ihm sagte, daß das
Frühstück, das für halb sieben bestellt worden war,
noch immer unberührt auf dem Platz stand.
Es war gleich halb acht.
Man kannte Gert Kassner hier in diesem Hotel gut genug, vor allem
seine Eigenheiten. Schließlich stieg er des öfteren hier
ab, wenn er sich auf Reisen befand. Es war bekannt, daß er
nicht geweckt werden wollte, daß er von selbst erwachte und
pünktlich sein Frühstück einnahm.
Sollte der unmögliche Fall eingetreten sein, daß er
doch verschlafen hatte?
Der Portier sagte: »Einen Moment bitte«, griff nach dem
Telefon und wählte die Nummer zum Zimmer des Vertreters. Zehnmal
schlug das Telefon an. Niemand nahm ab. Da gab der Hotelangestellte
es auf.
»Da ist etwas passiert.«
Mit keinem Gedanken dachte er daran, daß Gert Kassner
vielleicht abgereist sein könne, ohne seine Rechnung zu
begleichen. So etwas kam zwar täglich vor, aber bei Kassner
lohnte es nicht, überhaupt einen Gedanken an eine solche
Möglichkeit zu verschwenden.
Der Portier informierte die Geschäftsführung. Der
Zimmerkellner und ein weiterer Angestellter gingen hinauf zur
Tür. Sie war verschlossen. Mehrmaliges Anklopfen erbrachte
nichts.
Der Schlüssel steckte von innen. Es hatte keinen Sinn, mit
dem Ersatzschlüssel im Schloß herumzustochern, um den von
innen steckenden hinauszustoßen. Das Schloß mußte
abgeschraubt werden. Eine zeitraubende Arbeit!
Einfach die Tür mit Gewalt aufzubrechen, davon wollte der
Geschäftsführer nichts wissen. Nur nichts beschädigen,
wenn es irgendwie ging! Und dann sollte das Ganze auch noch recht
unauffällig über die Bühne gehen, damit ja kein Gast
etwas bemerkte.
Nur keine Aufregung, keine Unruhe keinen Auflauf! Hoffentlich war
nichts passiert. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.
Der Geschäftsführer schwitzte. Er nahm ein sauber
zusammengefaltetes weißes Taschentuch in seine Rechte und
tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
Vielleicht war dem Gast schlecht geworden.
Schwächeanfall… Kreislaufkollaps… dann
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