Macabros 035: Mirakel, Mann der Geheimnisse
Etwas
Großartiges wird Sie erwarten, Frau Gesan. Ich werde Sie
dorthin führen, wo alle Sorgen ein Ende haben, wo es keine
Schmerzen mehr gibt…«
»Das Land der Toten – du sprichst vom Tod, mein
Kind!«
Elisabeth Gesan erschauerte. Die Begegnung kam ihr so unwirklich
vor, daß sie meinte zu träumen.
»Ja, vom Tod – aber der Tod ist anders, als wir denken.
Er ist nicht das Ende. Man stößt nur eine Tür in ein
anderes, besseres Leben auf…«
»Ich bin krank, Liane. Ich fühle es. Mir schwindelt
– mein Kopf, fühlt sich ganz heiß an – meine
Gedanken sind so verworren – ist das so in der Stunde des Todes?
Ich habe dich immer sehr gemocht. Vielleicht, weil du mich an meine
eigene Tochter erinnerst, die starb, als sie so alt war wie du –
eine schlimme Infektion raffte sie innerhalb weniger Tage dahin
– Kinderlähmung, sagten die Ärzte damals – sie
war noch so jung. Wenn man stirbt, habe ich mal gelesen, soll man all
die Menschen wiedersehen, die einem vorangegangen sind – aber
das ist gar nicht so – warum sehe ich dich, Liane? Warum bist du
gekommen?«
»Um Sie mitzunehmen…«
»Dann werde ich jetzt sterben – so, schnell kann das
gehen?«
»Ja, so schnell kann das manchmal gehen. Aber es wird Ihnen
gutgehen Sie brauchen keine Angst zu haben…«
»Seltsamerweise habe ich keine Angst, Liane, nur die
Unwissenheit macht mir zu schaffen – wieso…«
Sie wollte noch etwas fragen, aber im gleichen Augenblick war es
ihr schon wieder entfallen. Es war ja alles so unwichtig.
Die dunkel schimmernden Augen der hübschen, jungen
Verkäuferin zogen sie ganz in ihren Bann.
Aus weiter Ferne vernahm Elisabeth Gesan ein Geräusch.
Wie durch eine Wattewand hörte sie das Rasseln der
Klingel.
Die sechzigjährige Frau aber war schon ganz weit weg, um es
noch bewußt mitzubekommen.
»Hier, Frau Gesan…« Die Geistererscheinung reichte
ihr das kleine Messer mit dem geschliffenen Jadegriff.
Elisabeth Gesan folgte ohne Widerrede.
Wieder die Klingel…
Dann heftiges Pochen. Die Frau kümmerte sich nicht darum.
Wie in Trance ging sie zum Sessel, auf dem Liane Martens gesessen
hatte, und setzte die scharfe Messerspitze an ihre Pulsader.
»Frau Gesan!« klang es wie ein Hauch an ihre Ohren. Ein
ferner Ruf! Jemand nannte ihren Namen. Sie begriff nicht, daß
die Geräusche von der Wohnungstür herkamen.
Dort standen zwei Männer.
Es waren Klaus Harder und sein Assistent Albert Wittert.
»Sie muß uns doch hören«, murrte Wittert.
»Der Lichtschein unter der Tür. Es ist doch jemand zu
Hause.«
Von diesen Worten vernahm Elisabeth Gesan schon nichts mehr.
Mit verzücktem Gesicht lag sie zurückgelehnt im Sessel.
Ihren kraftlosen Fingern entglitt das Messer mit dem Jadegriff.
Aus der geöffneten Pulsader strömte das Blut,
färbte den Unterrock der Frau und den Sessel und versickerte
darin.
Mit jedem Tropfen, den Elisabeth Gesan verlor, wurde sie
schwächer.
Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, und sie fühlte sich
wie auf Wolken schwebend.
Liane Martens war durchsichtig wie ein Schemen. Sie konnte die
Wand mit der Vitrine, hinter ihr wahrnehmen. Dazu wollte sie etwas
sagen. Ihre Lippen bewegten sich auch, doch Elisabeth Gesan fand
nicht mehr die Kraft, Worte zu formen.
Sie befand sich vollends in der Umklammerung jener unheimlichen,
fordernden Macht, die Liane Martens’ Geist auf sie ausübte.
Der Todesengel war gekommen, um sein vampirisches Leben
weiterzugeben.
Aber Elisabeth Gesan erfaßte das nicht, weil ihr Wille nicht
mehr frei war.
Sie sah eine Bewegung vor sich. Ihre halbgeschlossenen Augen
registrierten eine Gestalt, die hell und durchscheinend war wie ein
Geist.
Elisabeth Gesans erlöschendes Bewußtsein begriff.
»Das bin ich… Liane«, wisperte sie kaum
hörbar. »Ich kann mich sehen – meine Seele –
löst sich von meinem Körper – ich fühle mich frei
– wunderbar frei – das Sterben, Liane, ist gar nicht
schlimm…«
»Nicht für alle – nicht für Sie, Frau
Gesan…«
»Hallo? Aufmachen! Hallo, Frau Gesan…« hallte eine
Stentorstimme durch die Wände. »Können Sie uns
hören?«
Heftige Schläge trommelten gegen die Außentür.
In der Tiefe des Bewußtseins der Erlöschenden
bäumte sich ein Gedanke auf.
Ich will gar nicht sterben – warum gehorche ich ihr? Sie hat
mich überredet – sie hat Macht über mich – es ist
eine gefährliche, teuflische Macht, die von ihr ausgeht –
ich muß mich in acht nehmen vor ihr…
Der Widerstand war zu
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