Macabros 036: Gruft der bösen Träume
Sie hatte den Lockruf vernommen –
und war ihm gefolgt.
Ihre Angst vorhin war unterdrückt worden durch die
wohlklingenden, lockenden Stimmen.
Sie erinnerte sich jetzt genau an jede Einzelheit und war zornig
über sich selbst, daß sie betörenden Gedanken freien
Lauf gelassen hatte.
Die Stimmen kamen aus dem Berg zusammenhängenden Fleisches,
der sie von allen Seite einkreiste, und dort, wo er sich löste,
nackten, feuchtschimmernden Fels zurückließ.
Und die lockenden Stimmen waren keine lockenden Stimmen, sondern
widerliches Schmatzen und Gurgeln, hechelndes Atmen und Keuchen und
kicherndes Lachen, das aus jeder Pore der rohen Fleischmasse zu
dringen schien.
Der Ausgang war versperrt!
Ein breiter Streifen rot-grün schimmernden Fleisches lag
zwischen ihr und dem Ausgang, und sie ruderte wie irrsinnig darauf
zu.
Sie stemmte sich gegen die Ruder und ruderte in Gegenrichtung.
Für eine Sekunde stand das Boot still.
Aber der rötlich-grüne Fleischbrei kam auch jetzt von
links. Wie ein langer, überdimensionaler Arm ragte ein Teil
dieses unfaßbaren halbflüssigen Körpers ins Wasser,
glitt auf das Boot zu und erreichte es. Es gab einen dumpfen Klang
und einen Stoß gegen die Außenwand.
Cathy Francis hörte sich nur noch schreien.
Um dem Zugriff dieser unheimlichen, offensichtlich denkenden Masse
zu entkommen, nutzte es nun nichts mehr, daß sie ruderte. Sie
kam nicht mehr vom Fleck. Mehrere schleimige, tentakelartige
Auswüchse rutschten über den Bootsrand.
Es machte plopp…
Cathys Körper verkrampfte sich. Ihre Hände schlossen
sich eng um die Ruderstange, daß ihre Knöchel weiß
hervortraten.
Sie saß stocksteif da und konnte nichts anderes tun als
schreien.
Das Wispern und Keuchen drang aus den feuchtschimmernden Poren und
sie hatte das Gefühl, von tausend Augen angestarrt zu werden.
Der Brei zuckte ein Stück, groß wie ein flaches
Kopfkissen, löste sich von ihm, schob sich schmatzend und
klebrig an der Bootsinnenwand herunter, schmiegte sich an die Planken
an und rutschte über die Bank, als wäre dieses Stück
wie ein Tausendfüßler mit unzähligen winzigen Beinen
ausgestattet.
Da verlor Cathy die Nerven.
Sie sprang auf. Das Boot schwankte beträchtlich. Cathy
Francis wich zum äußersten Ende zurück, riß die
Hände vors Gesicht und verbarg ihre Augen als könne sie
damit das, was sie sah, auslöschen.
Über den linken Bootsrand glitt ein weiteres Teil des
Scheusals, und penetranter Fischgeruch schlug ihr entgegen.
Das Boot vor ihr war besetzt. Die Innenseiten, der Fußboden
und die Bank waren nicht mehr zu sehen.
Das Ungeheuer… oder der Dunkle Gott… oder was immer es
sein mochte, drängte sie in die Enge.
Cathy stierte mit weit aufgerissenen Augen auf den lebendigen
Teppich, der sich ihr entgegenwälzte und ihre Fußzehen
erreichte.
Wie ein Stromstoß ging es durch ihren Körper.
Die Berührung brannte und schmerzte sie, als würde
ätzende Säure sie berühren.
Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, festgehalten zu
werden.
Mehrere Zentimeter des Breis schluckten förmlich die drei
vorderen Zehen ihres linken Fußes.
Vor ihrem geistigen Auge stieg ein Schreckbild auf.
Das unförmige, gestaltlose Wesen aus der unbekannten Tiefe
der See wollte sie verschlingen.
Durch den körperlichen Kontakt mit dem wispernden,
schleimigen Etwas sah sie plötzlich Bilder in sich aufsteigen,
die sie weder durch ihre Augen empfing noch durch ihre eigenen
Gedanken produzierte.
Für den Bruchteil einer Sekunde war sie verbunden mit dem
Willen eines Wesens, das nicht sein durfte und das doch existierte
und älter war als die Menschheit.
Wie im Rausch verschwamm alles vor ihren Augen.
Sie sah es auf dem riesigen Leib, der sich vor und neben dem Boot
auftürmte, wimmeln. Dort regte es sich.
Panik befiel ihr Herz.
Diese Fleischmasse bestand aus tausenden menschlicher Leiber, die
dort gefangen waren, die gierig nach ihr griffen, die sich in dem
Brei wälzten. Sie waren Teil dieser rohen, unförmigen Masse
und bildeten sie.
Und Cathy Francis begriff: wenn das lockere, klebrige Gewebe sie
vollends umspülte, würde auch sie ein Teil dieses
gewaltigen, furchteinflößenden Körpers sein!
*
Aber noch war sie es nicht.
Und alles in ihr wehrte sich gegen das Entsetzen, das sie packte
und völlig lähmen wollte.
Sie riß sich los aus der eisigen Umklammerung der
Furcht.
Sie gab sich einen Ruck, zog ihr Bein weg und mußte dabei
eine Kraft aufwenden, die sie selbst verwunderte.
Cathys
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