Macabros 055: Mysterion, der Seelenfänger
der Sperre. Mit wütender Gebärde schob er die
Zellentür auf.
Eine Flut mittäglichen Lichts sprang den Polizisten entgegen.
Es füllte die gesamte Zelle aus und drang von dort in sie ein,
wo am Tag zuvor noch eine Wand gewesen war!
Sergeant Hölting stand im Rahmen der Tür. Sein Gesicht
war verkniffen. Ihm war unheimlich zumute angesichts der
berserkerhaften Gewalt, die hier gewirkt haben mußte.
Ohne Zweifel, Estrelle hatte seinen vermeintlichen
Erschöpfungsschlaf überwunden. Als er erwachte, hatte er
feststellen müssen, daß er sich im Gewahrsam der Polizei
befand. Scheinbar war ihm das unlieb gewesen, denn andernfalls
hätte er wohl kaum die Flucht durch die Wand angetreten.
»Ja, zum Teufel!« schrie Sergeant Hölting. Er sah
seine beiden Kollegen mit funkelnden Augen an. »Ist denn dieser
Mensch ein Supermann?«
Er kam nicht auf den Gedanken, daß es sich bei ihrem
ehemaligen Gefangenen vielleicht gar nicht um einen Menschen
handelte. Wie sollte er auch?
Tatsache war eines: Jacques Estrelle war wieder auf freiem
Fuß!
*
»Na, schmeckt es?« fragte Alexandra Becker.
Frank Morell nickte mit dem Kopf. »Danke, gut!«
Er legte das mit Käse belegte Brot zur Seite und wischte sich
den Mund ab.
»Was meinst du, Frank? Ich weiß nicht, aber mir geht
dieser Amokläufer einfach nicht mehr aus dem Sinn. Ich muß
mir immer vorstellen, wieviel Menschen ihm bereits zum Opfer gefallen
sind und daß ich gut unter ihnen hätte sein können.
Gerade hier in der Gegend treibt er sein Unwesen, und – wer
weiß – vielleicht erwischt es doch noch einen von
uns?«
Alexandra hatte sich ihm bis auf wenige Schritte genähert.
Morell sog leise die Luft durch die Nasenlöcher und inhalierte
ihr Parfüm. Sie bevorzugte ›Y‹. Es stand für Yves
Saint Laurent.
»Aber nein, Alexandra. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist
so minimal, daß essich kaum lohnt, sie zu erwähnen.
Frankfurt ist eine Großstadt und hat so viele Einwohner. Ich
glaube sogar gehört zu haben, daß die Polizei den Burschen
inzwischen in Gewahrsam genommen hat. Möglicherweise sind wir
schon vor ihm sicher.«
Frank Morell hatte seine Worte durch Gebärden begleitet, die
die ganze Unsinnigkeit von Alexandras Angst zum Ausdruck brachte. Er
selbst jedoch teilte die Erklärungen, die er abgegeben hatte,
nicht in vollem Maß. Er spürte, daß das Problem des
offenbar Wahnsinnigen etwas mit den Aufgaben zu tun hatte, die ihm
der Magier Johann Fürchtegott Kellermann übertragen hatte.
Und das bedeutete, daß sie in die Bereiche des Schwarzmagischen
hineinspielten.
»Ja«, sagte Alexandra. »Wahrscheinlich hast du
recht.«
Den Kopf gesenkt, als überlege sie, schritt sie um den
Schreibtisch Frank Morells herum. Sie hatte die Hände auf dem
Rücken ineinander gefaßt und lehnte sich so nach vorn
über, daß ihr einzig die Kante des Tisches in Höhe
des Unterleibes einen Halt gab.
»Du wirkst so nachdenklich, Frank«, sagte sie leise.
»Irgendwie hast du dich in letzter Zeit
verändert.«
Morell schrak zusammen.
Verändert? Sollte es ihm trotz seiner Bemühungen
anzusehen sein, daß er zum Vollstrecker der guten Mächte
geworden war?
»Nein«, sagte er. »Du mußt dich
täuschen, Alexandra.« Er grinste und ließ’
seinen Blick wohlgefällig über ihren Körper
gleiten.
Alexandra sah sich kurz in dem Büroraum um. Niemand
außer ihnen befand sich noch hier. Hans Bogner und Petra Veiten
hatten vor kurzem gemeinsam den Raum verlassen, um sich ein Menü
von nebenan zu holen. Unwillkürlich schien es Frank, als habe
Alexandra die ganze Zeit über auf eine Gelegenheit gewartet. Er
sah sie unmerklich aufatmen und sich nach ihrem kurzen Rundblick
wieder ihm zuwenden.
»Frank«, begann sie. »Ich…« Sie
schluckte. »Ich mußte endlich mal mit dir reden.«
Morell sah sie erstaunt an. Ihm begann ein Licht aufzugehen. Darum
also war Alexandra derart darauf bedacht gewesen, mit ihm allein im
Büro zu sein. Sie hatte ihm etwas zu sagen.
»Du weißt«, begann sie leise, »daß ich
dich schon immer sehr sympathisch fand. Und… Frank, bitte
glaub’ mir: es hat sich mehr daraus entwickelt als Sympathie.
Ich denke, Frank… Ich denke – ich liebe dich!«
Morell zuckte zusammen. Sein Kopf ruckte in die Höhe, und es
schien, als lausche er in ferne Welten.
»Bitte, Frank«, fuhr Alexandra fort. »Ich… ich
muß es mir endlich von der Leber reden… Und ich muß
eine… eine Antwort bekommen… Ich…«
Frank stand auf. Er machte den Eindruck, als
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