Macabros 055: Mysterion, der Seelenfänger
einen schnelleren Lauf. Sie
waren kaum fünfzehn Meter gerannt, da kamen sie auf eine
Querstraße. Es war eine große Geschäftsstraße,
die nur von renommierten Firmen gesäumt wurde. In den unteren
Etagen befanden sich die Verkaufsläden, in den oberen die
Büroräume.
Sie brauchten nicht lange zu überlegen. Sie wußten die
Richtung, aus der der gellende Schrei gedrungen war, und schwenkten
ein weiteres Mal links ein. Nun sahen sie auch die Menschenmenge, die
sich auf dem Bürgersteig versammelt hatte. Von dorther war der
Schrei gekommen.
Schweiß setzte sich auf die Stirn der Freunde und Helfer.
Sollte sich wieder etwas Ähnliches ereignet haben wie eben?
»Machen Sie Platz! Lassen Sie uns bitte durch!«
Die Polizisten hatten es schwer, den Kreis der Zuschauer zu
durchbrechen. Es war erstaunlich, wie schnell sich so ein Ring
formierte.
Als ihre Blicke auf die Gestalt trafen, die vor ihren
Füßen auf dem Boden lag, atmeten sie tief durch. Vor ihnen
lag – Estrelle, der Mann, den sie verfolgt hatten…
Ghosters war der erste, dessen klare Überlegung wieder
einsetzte.
»Markward«, sagte er zu einem Kollegen. »Sie gehen
in das nächste Geschäft und rufen zwei Fahrzeuge herbei,
einen Streifen- und einen Krankenwagen. Wir kümmern uns
inzwischen um unseren Freund.«
Markward bestätigte und machte sich auf den Weg, die
Anordnung auszuführen. Er schlüpfte durch die
Menschenmenge, die sich angesammelt hatte, und verschwand in einem
Geschäft.
Ghosters ging in die Hocke. Vorsichtig ergriff er die Schulter des
Mannes, den sie verfolgt hatten, und drehte ihn zu sich herum.
Entsetzt fuhr er zurück.
Als er sich an den unerwarteten Anblick gewöhnt hatte,
näherte er sich von neuem. Scheu blickte er in die glasigen
Augen Estrelles, die ihn leblos anstarrten. Sie waren es, die ihn
schockiert hatten. Noch nie hatte er unpersönlichere Augen
gesehen.
Ghosters fühlte den Puls. Er preßte die Hand des Mannes
auf das Pflaster und spürte das rhythmische Pochen. Es kam nur
leicht und in größeren Abständen, aber es kam.
Der Mann lebte.
Ghosters erhob sich. Er winkte einem weiteren Kollegen, der
daraufhin seine Absperrungsmaßnahmen forcierte. Murrend trat
die Menge den Rückzug an, hielt aber in einiger Entfernung die
Stellung.
Der Polizist sah zu den Menschen hinüber. Aus den meisten
sprach Neugierde und Faszination, aus dem einen oder anderen auch
Angst, vermischt mit Schrecken.
»Hat jemand von Ihnen beobachtet, was geschehen
ist?«
Eine Weile rührte sich nichts. Dann trat eine Frau hervor.
Sie war bleich wie ein Leintuch, und der Polizist befürchtete,
sie könnte jeden Augenblick umfallen.
»Ich«, sagte sie.
Ghosters ging auf sie zu und nahm sieam Arm.
»Wie ist es geschehen?« fragte er wieder. Ein kurzer
Blick auf den wie leblos liegenden Körper bestätigte ihm,
daß sich seine Kollegen bereits um das Wohl des Menschen
bemühten.
»Ich… kann es selbst kaum begreifen. Auf einmal… er
stand neben mir… rannte und wollte an mir vorbei… da fiel
er um…«
Die Frau sah den Polizisten an.
»Er fiel um, einfach um… eben noch war er voller
Kraft… dann lag er am Boden!«
»Ich danke Ihnen«, sagte Ghosters. Ohne die Frau
loszulassen, wandte er sich zu der Menge. »Hat einer von Ihnen
der Aussage dieser Dame noch etwas hinzuzufügen? Oder
beobachtete es vielleicht jemand anders?«
Die Augen des Polizisten verengten sich. Mann für Mann
betrachtete er die Gaffer und versuchte ihre Reaktionen einzuordnen.
Er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen.
Als ihm das schrille Auf und Ab der Boschhörner in den Ohren
klang, sah er über die Köpfe der Umherstehenden hinweg. Er
erkannte das weiße Dach eines Rettungswagens, auf dem das
blaufarbene Rundumlicht rotierte.
»Die Sanitäter kommen!« sagte hinter ihm einer
seiner Kollegen völlig überflüssig.
Ghosters drehte sich um und ging wieder zu dem Körper des im
Staub der Straße liegenden Mannes, von dem sie nicht
wußten, wer er war, noch warum er plötzlich das
Bewußtsein verloren hatte. Sie hatten ihn verfolgt, weil er in
tätlicher Weise harmlose Fußgänger attackierte.
Der Einsatz der Sanitäter verlief schnell und routiniert. Mit
einigen brüsken Worten und der Unterstützung der Polizei
bahnten sie sich einen Weg durch die Menschentraube. Sie setzten die
Liege neben dem Körper des Mannes ab und hoben ihn. Dann zogen
sie sich in ihr Fahrzeug zurück, wo sie Estrelle einem ersten
Ganzkörper-Checking unterzogen.
Niemand hätte
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