Macabros 055: Mysterion, der Seelenfänger
zwei Jahre her«, erklärte Krim.
»Aber es kommt mir vor, als sei es erst gestern gewesen. Die
Freude, die wir miteinander gehabt haben! Meine Güte, selbst im
Alter war sie immer lustig und aufgeweckt.«
Als Ulping den Zug zwischen den Fingern spürte, lehnte er
sich vor. In aller Gemütsruhe begann er die Angel
einzuholen.
»Sie haben die Wette verloren«, sagte er.
»Das wollen wir erst mal abwarten«, entgegnete ihm Krim.
»Noch haben Sie ihren Fang nicht an Deck.«
Interessiert beobachtete er, wie sich die sirrende Schnur von
Ulpings Angel langsam dem Boot näherte. Es schien ein ganz
schöner Brocken dranzuhängen. Es machte dem Mann
offensichtlich Mühe, ihn einzuholen.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Krim.
»Danke, das ist nicht nötig«, winkte Ulping ab. Er
leckte sich über die Lippen und stand auf. »Das krieg’
ich schon allein fertig, das Bürschchen!«
Gerd Krim und Franz Ulping hatten sich erst vor einer Woche
kennengelernt. Beide verbrachten sie ihren Urlaub auf den Bermudas,
und beide waren sie Rentner. Von Anfang an waren sie sich sympathisch
gewesen.
Schon am ersten gemeinsamen Abend hatten sie sich viel zu
erzählen. Unter der rauhen Schale ihrer Männlichkeit kam
die Last der Einsamkeit zum Durchbruch. Gegenseitig begannen sie sich
ihre Erlebnisse zu berichten. Und mit dem Fortschreiten des Abends
fanden sie heraus, wie ähnlich sie sich doch waren.
Es folgten noch viele Treffen. Fast jeden Tag verabredeten sie
sich und genossen gemeinsam ihren Urlaub. Sie merkten gar nicht, wie
schnell er vorüber zog.
So waren sie recht überrascht, als Franz Ulping eines Abends
feststellte, daß er morgen die Rückreise antreten
würde. Sie beschlossen ihr Beisammensein mit einer Krönung
ausklingen zu lassen. Kurzerhand charterten sie ein Boot und gingen
auf Fischjagd.
Gerd Krim kamen Zweifel, ob es sein Freund wirklich aus eigener
Kraft schaffte, den Fang an Bord zu hieven. Skeptisch beobachtete er
den Kampf, den Ulping mit seiner Beute ausfocht.
Der über Sechzigjährige hatte die Beine gespreizt und
hielt sich schräg gegen den Zug seines Fanges gestemmt. Die
Angel in seiner Hand vibrierte.
»Meine Güte«, staunte er, »was muß das
für ein kapitaler Brocken sein!«
Zu mehr blieb ihm keine Zeit.
Mit einem Mal verstärkte sich der Zug an der Angel. War
Ulping eben noch in der Lage gewesen, ihm seine Kraft
entgegenzuhalten, so wurde er nun nach vorn gezerrt. Einmal aus
seiner Stellung gerissen, fand er den Halt nicht wieder.
Kopfüber stürzte er in das Wasser.
»Franz!«
Krim eilte zu seinem Freund und bemühte sich, ihn in letzter
Sekunde noch festzuhalten. Doch sein Wille zum Helfen kam nicht gegen
seine Reaktionsschnelligkeit an, die dem Alter zum Opfer gefallen
war.
»Franz!« rief er noch mal. Sein Blick war auf die Stelle
gerichtet, wo sein Freund eingetaucht war. Der kapitale Fang, den er
an der Leine gehabt hatte, war vergessen.
Und das war ein Fehler…
Während sich Gerd Krim noch darauf konzentrierte, ein
Lebenszeichen Ulpings erheischen zu können, durchfuhr das Boot
eine starke Erschütterung.
Krim wäre umgefallen, wenn er sich nicht mit einer Hand an
der niedrigen Außenkante hätte festhalten können. Die
Orientierung war ihm genommen, so daß ihm nicht bewußt
wurde, daß sich das ganze Boot schief legte.
Seine Gedanken waren bei Franz. Bei ihm und dem grauenhaften
Schicksal, das ihn ereilt hatte. Doch: Vielleicht gab es noch eine
Möglichkeit ihn zu retten?
Krim klammerte sich an diesem Gedanken fest, obwohl er sich nicht
vorstellen konnte, wie eine solche Rettung aussehen sollte.
Jetzt erst wurde ihm die Schräglage desBootes bewußt.
Er wandte sich von der Kante, auf die er sich gestützt hatte, ab
und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten.
Plötzlich fuhr er zurück…
Der Boden, auf den er treten wollte, war von den Ausläufern
einer schleimigen Masse bedeckt. Erst als er mit den Augen zwinkerte,
erkannte er, daß die Ausläufer so formlos nicht waren. Sie
bildeten eine Spitze und verdickten sich in entgegengesetzter
Richtung wie…
Ein Krake!
Er sah den kuppelförmigen Schädel des Untieres, die
gigantischen Augen, die ihn ausdruckslos anstarrten.
Das unheimliche Wesen hockte auf der Außenkante des Bootes
und hatte es dadurch veranlaßt, seinem Gewicht nachzugeben.
Das war also der Grund der Schräglage…
Gerd Krim begann zu schreien, so laut, wie es seine zittrige
Stimme zuließ. Obgleich er genau wußte, daß ihn
niemand hören würde,
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