Macabros 092: Mandragoras Zaubergärten
Hellmark das rote Tuch ab, faltete es zusammen und legte
es beiseite.
Einen Moment stand er nachdenklich – und als wäre
jegliches Leben aus seinem Körper gewichen – vor dem
Spiegel.
Dann hob er wie unter innerem Zwang seine rechte Hand und streckte
sie aus.
Es schien, als müsse er sich erst vergewissern, ob der
Spiegel nach einer langen Zeit der Ruhe noch
’funktioniere’…
Was wie Glas aussah, war keines.
Seine Finger stießen nicht auf Widerstand. Sie gingen durch
die Oberfläche wie durch einen Nebel.
Seine ganze Hand versank darin.
Während er noch in der Höhle stand, die sich auf der
unsichtbaren Insel Marlos befand, ragte seine Hand in eine andere
Dimension, in eine andere Welt, die ihm völlig unbekannt
war…
*
Das Wetter verschlechterte sich schnell.
Die beiden Männer, die angeseilt an der Seilwand über
der Schlucht hingen, waren damit alles andere als einverstanden. Doch
sie mußten es hinnehmen.
Die Wolken hingen tief.
In der engen Schlucht der Viamala herrschte eine seltsame,
bedrückende Düsternis.
Die zerklüfteten Hänge zu beiden Seiten waren mehr zu
ahnen als zu sehen.
Der graue Nebel fiel auf die beiden Männer herab, die an der
feuchten, aalglatten Felswand klebten. Wie zwei Insekten in der
Großartigkeit dieser bizarren Bergwelt.
Eine unendliche Stille umgab sie, in der das leise Rauschen des
Regens um so stärker zur Wirkung kam.
Aber ihn nahmen sie schon gar nicht mehr richtig wahr.
Der obere Bergsteiger kroch an dem Felsband entlang, das er in der
Seitenschlucht entdeckt hatte. Ursprünglich war es ihre Absicht
gewesen, dieses von ihnen entdeckte, ganz offensichtlich nicht in der
Karte vermerkte Felsband so weit wie möglich zu verfolgen. Auf
diese Weise wollten sie diesen Weg für spätere
’Expeditionen’ erforschen.
Der Himmel über ihnen zeigte sich noch ein einziges Mal. Ein
fahlgelber Ball tauchte zwischen schnell dahinziehenden Nebelschwaden
auf. Das Licht- und Schattenspiel der hochstehenden Sonne schnitt
einen riesigen Felsblock, der eine natürliche Brücke
über der Schlucht vor ihnen bildete, förmlich entzwei.
Die beiden Deutschen, die in Thusis zu ihrer Viamala-Wanderung
aufgebrochen waren, verharrten in der Bewegung und hielten den Atem
an, um das großartige Naturschauspiel zu beobachten.
Der an dem Doppelseil hängende obere Bergsteiger wandte dann
den Kopf und drehte seinen Körper dem dahinfließenden
Licht- und Schattenspiel nach, damit ihm keine Einzelheiten
entgingen.
Seine Hände krallten sich in den aufgeworfenen Rand eines
kleinen runden Schachtes, der oberhalb seines Kopfes lag.
Das Oberflächengestein, vom letzten Frist hart bearbeitet,
bröckelte unter dem Zugriff ab.
»Achtung!« Peter Leitner gab den Warnruf von sich und
zog sofort den Kopf ein.
Der Schrei hallte durch die Schlucht und stieg aus
unergründlicher Tiefe wieder empor, wurde scharf, prägnant
und ungeheuer steil. Das erste Echo! Dann – länger und
gedehnter – das zweite aus der anderen Schlucht…
Ein Schrei, unerwartet und schrill, wurde hier in der engen Welt
der Viamala zu einem erschreckenden Vorgang.
Mit dem Schrei erfolgte das Rasseln und Rattern über die
glatte Felswand.
Die Oberfläche des Randes war morsch. Dünne
Schieferplatten rutschten über die glatte Felswand. Die Sonne
versank hinter den wirbelnden Wolkenfetzen und tauchte wieder
auf.
Mit dumpfem Poltern stürzten die mehrere Millimeter dicken
Bruchstücke über den Berg, ihr Ziel war irgendwo in der
Tiefe.
Die beiden Männer wurden nur von kleinen Brocken getroffen.
Sie wurden ihnen nicht gefährlich.
Eine verhältnismäßig große Schieferplatte
jedoch verfehlte Leitner nur um Haaresbreite. Sie kullerte an ihm
vorbei, sprang ihm über die Füße und blieb an einem
flachen Felsvorsprung hängen.
Leitner blickte nach unten.
Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
Unter ihm schob sich knirschend und krachend die
Felsoberfläche auseinander!
*
Ein Loch entstand.
Es war annähernd kreisrund, hatte die Form eines Trichters
und einen Durchmesser von drei Meter!
Gerd von Paczewsky, Lettners Begleiter, hing einige Meter tiefer
und starrte voller Entsetzen nach oben. Er meinte, der Berg
würde sich vor ihm öffnen wie der Schlund eines Ungeheuers
und ihn verschlingen…
Die beiden Männer waren wie vom Donner gerührt.
Sie warteten, bis das Poltern und Knirschen aufhörte und die
letzten Bruchstücke über die Felswand gerutscht waren.
»Mensch, Peter!«
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