Macabros 092: Mandragoras Zaubergärten
stieß Paczewsky hervor. »Ich
träume – oder ich spinne…«
»Dann träumen wir entweder alle beide oder haben zum
gleichen Zeitpunkt den Verstand verloren. Daß es so etwas gibt,
hab’ ich noch nie gehört…«
»Und ich hab’ noch nie erlebt, daß ein paar
morsche Schieferbrocken imstande sein sollen, ein Loch von gut drei
Meter Durchmesser in massiven Fels zu schlagen!«
»Das Loch war schon da, Witzbold«, entgegnete Leitner.
Seine Stimme klang nicht so frisch und überzeugend wie sonst.
»Scheint sich um ’ne Art Schacht zu handeln, der aus einem
mir unerfindlichen Grund mit einer Felsplatte verschlossen war, die
sich nun durch diese verhältnismäßig leichte
Berührung geöffnet hat.«
»Ein künstlicher Verschluß?«
»Sieht ganz soaus…«
Die beiden Männer kamen mit dem Phänomen nicht zurecht.
Was sie erlebt hatten, war zu ungeheuerlich, als daß eine
Erklärung auf Anhieb möglich gewesen wäre.
Leitner, der einen direkten Blick zu dem Gebilde mitten in der
Felswand hatte, entschied, sich ihm zu nähern. Er seilte sich
ab.
Er näherte sich der Öffnung so, daß er
halbschräg über ihr hing.
Unter seinen Füßen klaffte ein senkrechter, tiefer
Schacht. Er sah aus, als wären vor Urzeiten mächtige Wasser
durch ihn gesprudelt und hätten sich im Lauf von Jahrmillionen
Millimeter für Millimeter tiefer in den Fels gefressen.
Ein leises Rauschen schien darauf hinzuweisen, daß weiter
unten im Schacht Wasser floß.
Der Schacht war wie eine Spirale gedrechselt.
Die äußere Form zeigte den Männern, daß sie
es ganz offensichtlich mit einem sogenannten Riesentropf, einem
natürlichen Gebilde in der Viamala-Schlucht zu tun hatten. Nicht
natürlich aber war der Vorgang, der den Schacht freigelegt
hatte…
»Kannst du erkennen, wie tief er ist?« fragte von
Paczewsky. Das Schweigen seines Freundes dauerte ihm zu lang.
»Bei den herrschenden Lichtverhältnissen nicht besonders
gut«, lautete die Antwort. Leitner beugte sich weiter nach vorn.
»Vier bis sechs Meter schätze ich…«
»Das Ding, Peter, nehmen wir unter die Lupe…«
»Ich bin schon dabei. Nur nichts überhasten. Mit einer
solchen Überraschung hab’ ich nicht gerechnet. Das
muß ich erst mal verdauen…«
Sie besprachen sich genau, wie sie vorgehen wollten.
Leitner seilte sich weiter ab. Zuerst kam es ihnen darauf an
festzustellen, wie der ’Verschluß’ des Riesentopfes
funktionierte. Die Felsplatten, die das Gebilde vorhin noch
verdeckten, waren in der Wand verschwunden.
»Dieses komische Sesam-öffne-dich muß doch eine
Bedeutung haben«, knurrte von Paczewsky unwillig. Im Gegensatz
zu seinem Begleiter war er nervöser, es ging ihm nicht schnell
genug. »Wenn wir das draußen jemand erzählen –
das glaubt uns kein Mensch…«
»Ich laß’ es auf einen Versuch ankommen«,
machte sich Peter Leitner bemerkbar, ohne auf die letzten
Ausführungen des Freundes einzugehen. »Ich sehe mir den
Trichter von innen an. Ich glaube, ich kann das Wasser sehen. Da
unten spiegelt’s. Ich versuche festzustellen, wie tief die erste
Wanne ist und ob’s danach weitergeht…«
Sie hielten sich nicht zum erstenmal in der Schlucht auf. Sie
kannten die Gegend hier wie ihre Westentasche.
Leitner beabsichtigte einen Viamala-Führer für Touristen
zu schreiben, der all das berücksichtigte, was bisher noch nicht
bekannt war. Das Projekt war mit einem Schweizer Verlag in Thusis
abgesprochen. Leitner war bekannt dafür, daß er
Außergewöhnliches zu beschreiben verstand.
So hatte er in den Alpen und in der französischen Jura vor
zwei Jahren bisher unbekannte Höhlen aufgesucht, fotografiert
und beschrieben.
Gerd von Paczewsky zeichnete in dem Hauptsache für die
ausgezeichneten Fotografien verantwortlich, die auch die neue
Schilderung illustrieren sollten.
»Ich verschaffe mir einen ersten Einblick. Dann werden wir
weitersehen. Behalte den Eingang im Auge!« Das letzte hatte
Leitner noch nie gesagt. Es bewies, daß er dem Vorfall
große Bedeutung beimaß.
Mit dem Doppelseil stieg er in die senkrechte Vertiefung.
Die Felswände, die ihn gleich darauf umgaben, sahen aus wie
geschliffen.
Unwillkürlich mußte Peter Leitner an einen riesigen
Mahlstein denken, der Jahrmillionen lang von einem gewaltigen Strom
immer und immer wieder in Bewegung gesetzt worden war und
schließlich diesen Strudeltopf gegraben hatte.
Er hielt Ausschau nach diesem Mahlstein.
Was er fand, war grobkörniger Sand und Kieselsteine. Dann
erreichte er die erste
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