Macabros 103: Nebel-Labyrinth des Tschonn
rüber…«
Mahay spielte seine Rolle geschickt und perfekt weiter.
Auf der anderen Seite des Hügels waren Danielle und Jim
postiert. Danielle konnte jeden Quadratmeter Boden zwischen Wohnhaus
und Hotel überblicken, während Jim den Hinterausgang im
Auge behielt.
Sie selbst konnten nicht gesehen werden.
Mahay lief langsam, bewegte sich schwerfällig wie ein alter
Mann, der Schwierigkeiten mit dem Gehen hatte.
Er fragte sich, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Die
Begegnung mit Madame Fraque war anders verlaufen, als er sie sich
vorgestellt hatte. Mahay war der Überzeugung gewesen, daß
die Hotelinhaberin sich tagsüber verleugnen ließ –
und nächtens dann ihr vampirisches und dämonisches Unwesen
trieb. Zusammen mit all ihren ebenfalls tagsüber unsichtbaren
Gästen.
Er versuchte die Bilder beiseite zu schieben, die sich ihm
aufdrängten. Er sah die tote Camilla Davis im Innern des Hauses
vor sich auf dem Boden liegen und erlebte in Gedanken nochmal die
grauenvolle Schneenacht, den Tanz der unheimlichen Gespenster, die in
einem Zwischenreich lebten, und die Madame Fraques Gäste waren.
Wie sahen die Zimmer aus, in denen sie sich aufhielten? Waren sie
besonders gestaltet? Was verbarg sich hinter den verblaßten,
verwitterten Fensterläden, die ganz offensichtlich nie
geöffnet wurden? Er hätte es zu gern gewußt. Und er
wußte auch, daß er alles daransetzen würde, um einen
Blick in die dunklen, geheimnisumwitterten Räume zu werfen. Er
mußte nur den geeigneten Zeitpunkt abwarten.
Rani Mahay war noch drei Schritte von den abgetretenen
Sandsteinstufen entfernt, als sich knarrend die Eingangstür des
Hotelgebäudes öffnete.
Mahay hob den Blick – und erlebte innerhalb der letzten drei
Minuten eine weitere Überraschung.
Das Mädchen, das in der letzten Nacht gestorben war, dessen
Leben Madame Fraque ausgesaugt hatte, stand förmlich
lächelnd und gesund vor ihm.
Claudia Sevoir!
*
Fast hätte er ihren Namen genannt.
»Kommen Sie herein, Monsieur!« rief das junge
Mädchen. Sie trug einen engsitzenden, aufreizenden Pulli.
»Madame hat sie schon angekündigt.«
Claudia öffnete die Tür weit, so daß das
Sonnenlicht tief in den langen, modrig riechenden Korridor eindringen
konnte. »Das Wetter ist herrlich heute, nicht wahr?«
»Ja, mein Kind…«, murmelte Mahay. »Es ist
schade um jede Minute, die man im Haus verbringen muß. Deshalb
liebe ich die Freiheit und die Natur so sehr.«
»Wenn Sie draußen essen wollen, stelle ich Ihnen gern
einen Tisch und einen Stuhl hinaus, Monsieur.«
»Nein, nein. Bitte keine Umstände.«
»Aber das sind keine Umstände, Monsieur. Ich tu’s
gern.«
Mahay schüttelte den Kopf. »Vielen Dank für das
Angebot.« Soviel Entgegenkommen war fast verdächtig. Et
mußte auf der Hut sein.
Madame Fraque… und Claudia…
Die eine hatte eine Affinität zur anderen.
In der letzten Nacht hatte Madame Fraque ihm offen gesagt,
daß das Mädchen aus Cereste seit frühester Kindheit
von ihr als Opfer auserkoren war. Der Welt gegenüber hatte
Charmaine Fraque stets eine gütige und hilfsbereite Maske
aufgesetzt. In Wirklichkeit aber war sie eine Teufelin, eine
dämonische Persönlichkeit, vergiftet vom Gedankengut
Molochos’ und Rha-Ta-N’mys.
Claudia Sevoir war ohne ihr Wissen vorbereitet worden. Sie durfte
das zwanzigste Lebensjahr nicht erreichen. Ihre Jugend und
Schönheit war für die Greisin Madame Fraque reserviert. Und
mit dämonischer Hilfe und Kraft war letzte Nacht der für
Claudia tödliche Ritus vollzogen worden.
Aber nun war sie wieder da.
Frisch, jung und unbeschwert.
Eins stand fest: er wurde in die Irre geführt, wußte
aber nicht, ob gezielt oder ob Madame Fraque jedem Besucher, der
unerwartet oder erwartet hier oben auftauchte, dieses Schauspiel
vorführte. Sie mußte sich schützen und der Welt
weiterhin ein Schauspiel bieten…
Langsam fing Rani an zu zweifeln, ob in der Nacht wirklich alles
so abgelaufen war, wie er es in Erinnerung hatte. Vielleicht waren
ihm da schon Trugbilder vorgegaukelt worden – und jetzt erlebte
er die Wirklichkeit.
Vielleicht war auch die alte, allgemein beliebte Dame selbst ein
Opfer der Ereignisse in ihrem Haus, ein Spielball in den Händen
dämonischer Mächte, konnte sich nicht befreien aus diesem
Teufelskreis und war eine Gefangene dieses Ortes. Auch diese
Überlegung ging ihm durch den Kopf.
Alles war möglich. Er mußte sich Gewißheit
verschaffen…
Claudia Sevoir ging ihm voran. Sie hatte
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