Macabros 106: Die gläsernen Dämonen von Etak
du? Warum wolltest du uns ermorden?«
»Ich bin Marie… Marie Rouvier«, drang es aus ihrer
Kehle. »Ich mußte es tun… Ich hatte keine andere
Wahl…«
»Wieso nicht?«
»Ich mußte tun, was man von mir verlangte…«,
sagte sie schnell. Sie machte einen gehetzten, übernervösen
Eindruck. Ihre Augen befanden sich in ständiger Bewegung. Es
schien, als warte sie noch auf etwas. »Es wird mich
bestrafen…, weil ich es nicht geschafft habe, den Auftrag zu
erfüllen. Aber ich möchte nicht sterben! Laßt mich
laufen!« flehte sie sie an. »Vergeßt, was geschehen
ist! Euch ist nichts geschehen, seid damit zufrieden… Ich
muß von diesem Ort fliehen, an dem ich versagt habe, hinter mir
lassen, sonst…«
Abrupt brach sie ab.
Die Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten, als sie das
kratzende und schabende Geräusch vernahm.
Es hörte sich an, als würden zwei schwere
Mühlsteine gegeneinander reiben.
Es waren Steine, wenn auch keine Mühlsteine.
Die zentnerschwere Platte auf einem der Sarkophage bewegte sich
und wurden von innen heraus langsam zur Seite gedrückt,
Millimeter für Millimeter…
*
Er gab seinem Begleiter ein Zeichen.
Und Harry Carson reagierte.
Macabros wollte nicht, daß er mit ihm die Buschwand
umrundete. Er wollte allein dorthin gehen. Instinktiv spürte er
eine Gefahr. Auch wenn er sie nicht begründen konnte, richtete
er sich danach. Er war es gewohnt, auf Gefühle zu
achten…
Der Platz jenseits der steinernen Mauer, die er entdeckt hatte und
die er mit dem steinernen Koloß in Zusammenhang brachte, lag im
Dunkeln. Das matte, grüne Schimmern aus der Wildnis reichte aus,
um ein erträgliches Dämmerlicht zu schaffen, in dem man die
Umrisse der Umgebung besser wahrnahm.
Noch ehe er vollends aus dem Kernschatten seitlich der Mauer trat,
sah er schon die Gestalten.
Es waren eine ganze Menge.
Sie hockten leicht vornübergebeugt auf dem weichen Boden,
hatten die Hände auf den Knien liegen und waren mit dunklen,
langen Lederhosen und einem breiten Gürtel bekleidet, deren
Schnallen kostbare Verzierungen aufwiesen.
Es handelte sich um Männer und Frauen, deren Oberkörper
nackt waren und die alle mit Schwertern bewaffnet waren. Die
Schwerter lagen griffbereit neben ihnen.
An der schönen Gestalt der Frauen und den muskulösen
Oberkörpern der Männer erkannte er, daß es sich um
Angehörige des Loark-Stammes handelte, jenes Volkes, das Aggars
Wüstenzone bewohnte.
Was taten sie hier?
Auf den ersten Blick sah es so aus, als wären sie in Gebet
oder Meditation versunken.
Die Loark aber beteten keine Götzen an!
Nicht jenen steinernen Koloß, dem die primitiven Traphilen
Blutzoll geleistet hatten. Der Götze hatte Menschenopfer
verlangt. Und diese Opfer waren hauptsächlich aus dem Loark-Volk
gekommen…
Macabros bemühte sich, weiterhin kein Geräusch zu
verursachen. Doch all zu achtsam brauchte er nicht mal zu sein.
Alles, was im Dschungel lebte, verursachte Lärm genug.
Und selbst das nahe Knacken eines Zweiges, das eigentlich
ungewöhnlich genug war, schreckte die Loark nicht auf. Sie
schienen keine Furcht zu kennen und waren sich ihrer Sache
völlig sicher.
Macabros ließ seinen Blick über die Anwesenden
schweifen.
Es waren rund fünfunddreißig Loark-Männer und
Frauen, die hier zusammengekommen waren.
Gegen seine ursprüngliche Absicht trat Macabros nicht auf den
freien Platz vor dem Steinernen Standbild hinaus. In weitem Bogen
umging er es, um hinter den Rücken der Sitzenden zu gelangen,
damit auch er deren Blickrichtung einnehmen konnte.
Was er sah, verwirrte ihn.
Von Schutt und Asche, die er zurückgelassen hatte, waren nur
noch Reste zu sehen.
Das alte ›Bauwerk‹ war teilweise wieder errichtet. Es
war allerdings nicht zu erkennen, daß es sich um die
ursprüngliche Statue des Götzen handelte. Lediglich die
alten Quader waren wieder aufeinandergeschichtet und bildeten eine
Art sehr hohen Altar, auf den man nur steigen konnte, wenn man eine
Leiter anlegte oder ein Riese war.
Die Altarplatte war schätzungsweise zehn Meter hoch, ragte
vier bis fünf Meter über den Boden hinaus, und dahinter
befand sich eine halbrunde Wand, die bis zu den Wipfeln der
höchsten Bäume reichte.
In dieser halbrunden Nische mitten auf dem Altar stand ein neues
Standbild. Es sah aus, als wäre es aus reinem weißem
Marmor gemeißelt worden.
Es stellte einen Mann dar, der ein Schwert in der einen Hand
hielt, in der anderen einen Kristall, den er spaltete. In
Weitere Kostenlose Bücher