Macabros 117: Amoklauf der Verlorenen
sie die Schwäche
bewußt werden, unter der sie litt.
Francoise konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, ging
gebückt und ließ die welke, zitternde Hand an der rohen
Hand entlangstreifen, um auf der steilen Treppe nicht den Halt zu
verlieren. Ein Geländer gab es nicht.
Die Studentin wankte wie eine Betrunkene nach unten und
mußte zwischendurch stehen bleiben, um Atem zu
schöpfen.
Dann war die Treppe endlich zu Ende.
Die neugierige Frau durchquerte die kleine Kammer und sah vor sich
den niedrigen, rechteckigen Eingang, vor dem es keine Tür gab,
in halber Höhe davor den Erdhügel und die wogenden
Nebelschwaden.
Dahinter folgten die Umrisse der knorrigen schwarzen
Stämme.
Das Zelt war nahe. Und damit – Marie, die Freundin…
Francoise Dillon verzog die faltigen, tief eingekerbten Lippen zu
bösartigem Grinsen.
Da drüben war das, was sie brauchte. Danach würde sie
sich wieder besser fühlen.
Mit ihren nackten Füßen lief sie den Weg zurück,
den sie gekommen war. Dann stand sie vor dem Zelteingang und schlug
ihn zurück.
Das Geräusch, als sie die Plane seitlich weglegte, war so
laut, daß die einsame Schläferin im Schlafsack
zusammenfuhr und sofort erwachte.
Sie sah – im ersten Moment noch mit verschleiertem Blick
– die schattenhafte Gestalt am Eingang, erschrak und wollte
schreien, als sie bemerkte, daß der Platz neben ihr leer
war.
»Francoise!« entfuhr es der dunkelblonden,
sommersprossigen Marie Amber, und der Schreckensausdruck wich von
ihrem Gesicht. »Jetzt hast du mich aber genervt… Ich denke,
da kriecht jemand ins Zelt und…«
Sie knipste die Taschenlampe an, die in Reichweite neben ihr lag
und richtete den Strahl seitlich neben die Herankommende. Im
Lichtfeld sah sie die uralte, vertrocknete Frau, die sich mit letzter
Kraft an der Mittelstange des Zeltes festhielt.
Marie Amber schrie gellend auf und wollte sich blitzschnell auf
dem Schlafsack drehen, als sie instinktiv im Blick der
›Freundin‹ die tödliche Gefahr las, die ihr
drohte.
Da ließ sich Francoise Dillon mit schrillem Lachen nach vorn
fallen, direkt auf Maria Amber.
In dem kleinen Zelt spielte sich nur ein kurzer, aber erbitterter
Kampf ab. Es brach unter den beiden Frauen zusammen.
Einen Moment noch sah man heftige Bewegungen unter der braunen
Plane, dann wurden sie ruhiger.
Fünf Minuten später erhob sich eine Gestalt und kroch
unter dem Zelt hervor.
Eine glatte, jugendliche Hand schob sich unter der Plane nach
vorn, hob sie und warf sie kraftvoll zurück.
Die Frau, die aufstand, war jung, während die alte wimmernd
und stöhnend liegen blieb, offenbar weil ihr die Kraft fehlte,
sich zu erheben.
Die junge Frau lachte, und in ihren Augen glitzerte die
Lebensfreude.
Sie betrachtete ihre glatten Hände, fuhr mit ihnen über
ihren geschmeidigen Körper, richtete sich auf und reckte und
streckte sich voller Kraft und Lebensfreude.
Es war – Francoise Dillon, die die neugewonnene Lebensenergie
genoß wie einen Jungbrunnen…
*
Aber der Zustand währte nicht lange.
Die Kraft, die sie durch die Berührung aus dem Körper
ihrer Freundin herausgesogen hatte wie ein Vampir das Blut aus der
Ader seines Opfers, wich dahin.
Die Haut verlor ihr glattes Aussehen in wenigen Sekunden. Die
Lebensenergie schwand. Aber sie verpuffte nicht einfach. Die
unsichtbare Kraft lag wie ein elektrisches Feld in der Luft und wurde
aufgenommen von dem geheimnisvollen alten Turm. Irgend etwas, irgend
jemand… war dort, der diese Kraft brauchte.
Francoise Dillon war in der nächsten Minute wieder von der
gleichen Gier nach Kraft und Energie erfüllt wie vorhin, als sie
zum Zelt zurückwankte.
Unter der Plane kroch die zweite Alte hervor.
Verhärmt, verwelkt und uralt, Marie Amber…
Sie lebten beide mit einem Rest Energie, der gerade ausreichte, um
sie nicht zusammenbrechen zu lassen.
Aber durch das rätselhafte nächtliche Erlebnis in dem
mysteriösen Turm war für Francois Dillon und Marie Amber
ein neues Dasein angebrochen.
Sie waren wie Untote, Zombies, die sich angezogen fühlten von
anderem Leben, nur, um es zu vernichten…
Der Drang in ihnen war so stark, daß sie alles daransetzten,
um sich zu holen, was ihnen fehlte. Obwohl sie selbst damit nichts
mehr anfangen konnten.
Der Keim des Bösen, mit dem die junge
Archäologie-Studentin in Berührung kam, war auch auf Marie
übergegangen. Sie waren nur noch Marionetten, Hilfskräfte
einer Macht, die im Turm lauerte und etwas Furchtbares im
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