Macabros 119: Flieh, wenn der Schattenmann kommt
Passanten wandten sich ab und schlugen die Hände vors
Gesicht. Andere wiederum starrten wie gebannt auf den durch die Luft
fliegenden Körper.
Björn Hellmarks Zweitkörper war eine halbe Sekunde zu
spät in dem hellerleuchteten Büro eingetroffen.
Der Schatten hatte schneller reagiert.
Björns Ätherkörper griff ins Leere.
Was dann geschah, war mehr, als die Gehirne der Schaulustigen
erfassen konnten.
Der große, blonde Mann, der sich noch aus dem fraglichen
Fenster beugte, war im nächsten Moment auf der Höhe des
siebten Stocks.
Wie er dorthin gekommen war, begriff kein Mensch. Wie ein Geist
stand er in der Luft und umfaßte die Stürzende, die wild
um sich schlug und ebenfalls nicht verstand, was sich da
ereignete.
Abrupt wurde ihr Sturz in die Tiefe gestoppt.
Hellmark wurde wie die anderen, in deren Mitte er stand, Zeuge der
Vorgänge, die er mit seiner Konzentration und seinem Willen
selbst bewirkte.
Er hatte seinen Zweitkörper im Zimmer hinter der in die Tiefe
Gestoßenen sofort aufgelöst und unmittelbar an der Stelle
neu entstehen lassen, wo die Stürzende vorbeikommen mußte.
Sie fiel in die ausgebreiteten Arme von Hellmarks
Zweitkörper.
Die Menschen, die es sahen, glaubten ihren Augen nicht trauen zu
dürfen.
Sie wurden Zeuge einer Sensation, eines Wunders, eines
Ereignisses, das jeglicher Erklärung trotzte…
Und es währte nur eine einzige Sekunde.
Da war die Stelle, an der die beiden Menschen eben noch zu sehen
gewesen waren, auch schon wieder leer.
Alles schien überhaupt nicht stattgefunden zu haben…
*
Aber dieser Eindruck täuschte.
Das Mädchen konnte es nicht fassen.
Sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen –
und der Mann, der sie vor dem sicheren Tod gerettet hatte, stand vor
ihr.
Sie atmete schnell’ und war kreidebleich, das
kurzgeschnittene schwarze Haar, das ihr puppenhaftes Gesicht rahmte,
verstärkte den Eindruck der Blässe noch.
»Wer sind Sie?« keuchte sie. »Wo kommen Sie her?
Wieso…« Ihr Blick flog zum weit offen stehenden Fenster,
das zu hoch lag, um auf die Straße hinuntersehen zu
können.
Die Gerettete griff an die Stirn, taumelte auf das Fenster zu und
starrte in die Tiefe.
Dort unten standen die Menschen und war der Verkehr zum Erliegen
gekommen.
Innerhalb der letzten drei Minuten hatte sich in der Straße
etwas Ungeheuerliches, Unbegreifliches abgespielt, und es würde
seine Kreise ziehen.
Das Mädchen trat vom Fenster zurück. Angstvoll streifte
ihr Blick die Hauswand und suchte die Wände im Innern des
kleinen Büros ab, in dem ein Schreibtisch standen, zwei
Stühle und ein verschlossener Aktenschrank. Auf dem Tisch stand
ein mit einer halbdurchsichtigen Plastikhaut abgedeckter
Bürocomputer.
»Er ist weg…«, flüsterte sie erregt, ohne
weiter auf die Fragen einzugehen, die sie vor wenigen Sekunden noch
an ihren unerwarteten Helfer und Gast gerichtet hatte.
Sie war verständlicherweise völlig durcheinander und
zitterte am ganzen Körper.
Sie starrte den Fremden an wie einen Geist und musterte ihn von
Kopf bis Fuß.
»Wenn ich nicht festen Boden unter den Füßen
spüren würde… wenn ich Sie nicht gefühlt und die
Menschen dort unten nicht hätte stehen sehen… ich
würde das alles nicht glauben«, brachte sie mühsam
lächelnd hervor.
Und dann kam sie auf den Mann zu und streckte vorsichtig die
rechte Hand nach ihm aus.
Sie zuckte zusammen, als sie ihn wirklich fühlte.
Der Blonde lächelte. »Wäre es Ihnen lieber, Ihre
Hand würde durch mich hindurchgehen wie bei einer
Geistererscheinung?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was mir lieber
wäre. Ich weiß überhaupt nicht, was ich noch glauben
soll… an Sie als meinen Retter, dem ich zu großem Dank
verpflichtet bin…«
Der Angesprochene winkte ab. »Das sind Sie nicht… Ich
kam zufällig hier vorbei«, bemerkte er grinsend, und diese
scherzhaft hingeworfenen Worte brachen das Eis endgültig
zwischen ihnen.
Sie begann zu lachen, und ihre Verkrampfung löste sich.
»Ich heiße Björn«, sagte er.
»Ich bin Cindy.«
Sie sah ihn noch immer aus großen Augen an, und im stillen
mußte sie sich eingestehen, daß dieser Mann ihr
sympathisch war, daß sie sich in seiner Gegenwart geborgen und
sicher fühlte.
Hellmarks Zweitkörper legte den Arm um ihre Schultern. Sie
ließ es willig geschehen und ahnte nicht, daß der Mann,
der ihr geholfen hatte, nicht aus Fleisch und Blut war. Er bestand
aus einer feinstofflichen Substanz, unterschied sich
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