MacBest
Hände.
»Wir brechen auf«, verkündete er. Sein Atem formte weiße Wolken in der kalten Luft. »Alle in die Wagen! Bei Sonnenuntergang müssen wir vor den Mauern von Sto Lat sein.«
Als die murrenden Schauspieler aus dem Bann erwachten und wieder auf die Karren kletterten, winkte Vitoller den Zwerg beiseite und legte ihm den Arm um die Schultern, besser gesagt: um den Kopf.
»Nun?« begann er. »Dein Volk weiß über Magie Bescheid. Das behauptet man jedenfalls. Was hältst du davon?«
»Tomjon verbringt den größten Teil seiner Zeit im Bereich der Bühne«, erwiderte Hwel unsicher. »Kein Wunder, daß er dabei das eine oder andere aufschnappt.«
Vitoller bückte sich. »Glaubst du?«
»Ich glaube, ich habe eine Stimme gehört, die meine Knittelverse nahm, ihnen die richtige Form gab und sie durch die Ohren direkt ins Herz stieß«, antwortete Hwel schlicht. »Ich glaube, ich habe eine Stimme gehört, die hinter der ungestalten Form von Worten erklang und jene Dinge sagte, die ich nicht zum Ausdruck bringen konnte, weil es mir an Talent mangelt. Wer weiß, woher diese Fähigkeit kommt?«
Er blickte ruhig in Vitollers rotes Gesicht. »Vielleicht hat er sie von seinem Vater geerbt«, fügte er hinzu.
»Aber …«
»Und wer weiß, was Hexen zustande bringen?« fragte der Zwerg.
Vitoller spürte die Hand seiner Frau in der eigenen. Als er verwundert und gleichzeitig verärgert aufstand, hauchte sie ihm einen Kuß an den Hals.
»Quäl dich nicht!« tröstete sie ihn. »Es ist doch alles in bester Ordnung, oder? Dein Sohn hat gerade sein erstes Wort vorgetragen.«
Der Frühling kam, und Ex-König Verence konnte sich noch immer nicht daran gewöhnen, untot zu sein. Mit unerbittlicher Entschlossenheit durchstreifte er das Schloß und suchte nach einer Möglichkeit, sich aus den erbarmungslosen Fesseln der alten Steine zu befreien.
Er versuchte auch den anderen Geistern aus dem Weg zu gehen.
Champot mochte ein wenig lästig sein, aber ansonsten gab es nichts an ihm auszusetzen. Doch Verence war zurückgewichen, als er zum erstenmal den Zwillingen begegnete: Hand in Hand schritten sie durch die mitternächtlichen Flure, zwei kleine Phantome, die an ein Verbrechen erinnerten, das noch tragischer sein mochte als die üblichen königsmörderischen Unannehmlichkeiten.
Und dann der troglodytische Wanderer, ein bereits ziemlich verblaßter Affenmensch, der einen aus Pelz bestehenden Lendenschurz trug und offenbar nur deshalb im Schloß spukte, weil man es auf seinem Grabhügel errichtet hatte. Aus unerfindlichen Gründen raste manchmal ein Streitwagen mit schreienden Frauen durch die Wäscherei. Und was die Küche betraf …
Trotz der Hinweise Champots gab Verence eines Tages der Versuchung nach, folgte den appetitanregenden Düften und betrat den großen, heißen und kuppelförmigen Raum, der als Küche und Schlachthof diente. Komische Sache. Seit seiner Kindheit hatte er diesen Ort nicht mehr aufgesucht. Küchen und Könige schienen sich nur schlecht miteinander zu vertragen.
In der saalartigen Kammer wimmelte es von Geistern.
Aber es handelte sich nicht um Menschen. Man konnte sie nicht einmal als protomenschlich bezeichnen.
Verence sah Hirsche, Ochsen, Hasen, Fasane, Rebhühner, Schafe und Schweine. Er bemerkte sogar einige klecksige Dinge, die auf unangenehme Weise an Austern erinnerten. Die Geister waren so dicht gepackt, das sie miteinander verschmolzen und die Küche in einen stummen, wirren Alptraum aus Zähnen, Fellen und Hörnern verwandelten, vage, dunstig und verschwommen. Einige bemerkten Verence, und er vernahm leises Blöken und Grunzen, das aus weiter Ferne zu kommen schien, irgendwie schrill und zornig klang. Der Koch und seine Helfer wanderten unbekümmert durch das Gedränge und stellten vegetarische Würstchen her.
Verence beobachtete das lautlose Geschehen eine halbe Minute lang, und dann floh er. Einmal mehr bedauerte er, keinen Magen zu haben. Mehr denn je wünschte er sich einen – um sich Finger in den Hals zu stecken, vierzig Jahre tief, um alles zu erbrechen, was er jemals gegessen hatte.
Er hoffte, in den Ställen Trost zu finden, wo seine geliebten Jagdhunde äußerst kummervoll winselten und an der Tür kratzten, weil sie seine unsichtbare Gegenwart spürten.
Jetzt spukte er – wie sehr er dieses Wort haßte!– in der Langen Galerie, wo ihn die Porträts längst toter Könige aus den staubigen Schatten anstarrten. Er wäre durchaus bereit gewesen, ihnen freundschaftliche
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