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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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mehr schlafen, er sah zu, wie der Himmel, auf dem ein letzter klarer Stern leuchtete, immer heller wurde, und seine Gedanken streiften gen Osten, zu den wunderschönen Bergen und den staubigen, von Ebereschen gesäumten Wegen, zu den Bergwiesen mit duftenden
bábele
, zu den Buchenurwäldern, in denen in heißen Sommernächten Zwerge und durchsichtige Quellenfeen tanzen und das goldene Moos und das morsche Holz der Baumstümpfe irrlichtern. Andrejko träumte von der Hütte aus Brettern, Lehm und rostigem Wellblech, in der er geboren worden war. Er wusste, dass die Häuser dort noch immer stehen mussten, die Onkel mit ihren Geigen und die Tanten mit zusammengebundenen Bettdecken um die Schultern |98| und mit Horden von kleinen Kindern waren doch vor gar nicht so langer Zeit nach Prag gekommen, dort musste auch seine schöne und liebe Mama zu finden sein, sie war bis jetzt nicht in Žižkov aufgetaucht, und wo sollte sie denn auch sonst sein, wenn nicht zu Hause in Poljana, bestimmt wartete sie dort auf ihn und schaute jeden Tag in die Ferne, wann sie zwischen den Bäumen endlich seinen Lockenkopf sehen würde   …
    Und in der folgenden Nacht, die er vor Kälte schlotternd auf einer Bank in einer einfachen Bahnhaltestelle inmitten von Feldern verbracht hatte, traf er seine Entscheidung. Er würde zu seiner Mama fahren, er würde sich auf den Weg machen, der Sonne und der Morgenröte im Osten entgegen   … und die neugeborene Hoffnung brachte neuen Glanz in seine Augen. Noch in der Morgendämmerung sprang er in den ersten Zug, der dort hielt, den ganzen Tag schlug er sich durch weitere Züge und Bahnhöfe durch, und wenn er den Mut fasste, nach dem Weg zu fragen, bemerkte er nicht einmal, dass er nicht mehr stotterte.
    In jenen Tagen, als er hungrig und verfroren die Gegend um Kostelec durchstreift hatte, war etwas in ihm zerbrochen. In jenen Tagen voller Hunger, Kälte und Angst, in jenen Tagen des berauschenden Freiheitsgefühls, als er nach seinem Weg suchte und ihn auch fand, da mussten in ihm die Weichen neu gestellt worden sein.
     
    Am Abend kauerte er bereits in einem Abteil des Nachtzugs von Prag nach Košice und Medzilaborce, lauschte dem stampfenden Rhythmus der Stahlräder auf den Gleisen und dachte an Onkel Fero. Fero war in einem Zug zur Welt gekommen, als seine Mutter nach Poljana zurückgekehrt war, in einem Zug hatte man seine Wangen zerschnitten, und zu |99| guter Letzt war er in Handschellen aus einem Zug abgeführt worden; die über die Weichen polternden Räder, die Lichter der Haltestellen und Bahnhöfe   – das war seine Freiheit, sein Leben   … Aber ihn, Andrejko, würde man nicht fangen, man durfte ihn nicht fangen   … Aus Gewohnheit musterte er die Taschen und die Mäntel seiner schlafenden Mitreisenden, direkt vor ihm hing eine halb offene Handtasche, aber er war wie gelähmt, er hatte keine Kraft mehr, außerdem lag die nächste Station, in der er aus dem Zug hätte springen können, nicht zwei Minuten entfernt wie bei einer Prager Straßenbahn, sondern viel, viel weiter.
    Längst war es dunkel. Auf die weitläufige Elbebene folgten die ersten Hügel, danach eine Landschaft, die so flach war wie ein Brett, mit Auenwäldern und Stoppelfeldern, die sich scheinbar endlos hinzogen, die Lichter von Haltestellen und Bahnhöfen huschten am Fenster vorbei, das schwarze Ostrava tauchte auf, dann Třinec, Rauchwolken, ein beißender Gestank nach Koksgas, lodernde Flammen aus Schornsteinen und Hochöfen, der Zug schlängelte sich zwischen einsamen Gehöften in den Beskiden und der Kysuce hindurch, der Himmel wurde wieder hell, und die Schaffner liefen durch die Wagen. Andrejko musste sich auf der Toilette verstecken. Er stand auf der Schüssel, und durch das gekippte Fenster betrachtete er die Berghänge, sie waren so schön, so warm und farbenfroh. Der Zug tauchte aus dem Nebel auf, und zum Greifen nah erstrahlte das Massiv der Tatra unter dem Zuckerguss des ersten Schnees, der Zug ratterte durch die tiefen Wälder von Spiš und schnaubte weiter gen Osten, die Bahnhofslautsprecher meldeten die restlichen Stationen, es blieben immer weniger übrig, wie die Perlen auf dem Rosenkranz, der früher von alten Weibern gebetet wurde, Spišská Nová Ves   … Margecany   … Kysak   … Košice   … Die Räder |100| zählten die letzten Kilometer und die letzten Eisenbahnschwellen dieser langen Reise ab, und Andrejko war ganz angespannt, weil er zurück zu seiner Mama fuhr, wie ein verirrter

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