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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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auch nicht mit dem Rohrstock auf den Tisch oder über die Finger der Schüler, aber schon nach ein paar Tagen suchten sie weinend das Weite. Die Jungen gaben ihnen einfach keine Chance   … und litten nachts unter wilden Träumen und Fantasien, so dass die Jüngeren von einem Bett zum anderen rennen mussten   …
    Weihnachten nahte. Einige Jungen fuhren über die Feiertage nach Hause, und die Übrigen mussten nicht zur Schule, sie streiften durch die verlassenen Flure und drehten in einer Ecke oder auf der Toilette eine abgegriffene Postkarte in den Händen: Ich wünsche dir frohe Weihnachten, deine Mutter, stand meistens auf dieser Karte, die sie tagsüber unterm Hemd verwahrten und nachts mit unter die Bettdecke nahmen, und obwohl sie ahnten, dass sie nur deswegen zweimal jährlich Post bekamen, damit sie nicht zur Adoption freigegeben wurden, wartete trotzdem jeder von ihnen darauf, dass er geholt würde, dass ein Wunder geschehe.
    Am Heiligen Abend liefen im Anstaltsradio Weihnachtslieder, zum Abendessen gab es einen Klacks Kartoffelsalat und kaltes Fischfilet, weil die Köchinnen schnell nach Hause wollten, und das war’s. Die Erzieher verzogen sich zu ihren Familien, zu ihren Kindern, Weihnachtsbäumen und Geschenken, |90| während die Jungs auf den Betten herumlagen und Radio hörten. Hie und da, um die eigene Verlegenheit und Traurigkeit zu kaschieren, holte einer seine sorgfältig aufbewahrte Zigarette hervor und ließ sie herumgehen, an einem anderen Tag hätte das keiner gemacht, weil Zigaretten entweder den Erziehern geklaut oder reingeschmuggelt wurden, und wer dort niemanden hatte und kein Geld auftreiben konnte, um sie sich kaufen zu können, musste sich jede Fluppe hart erarbeiten, häufig auch unter der Bettdecke.
    Im Radio trällerten geschulte Kinderstimmen ohne Ende ›Alle Jahre wieder‹ und ›Stille Nacht, heilige Nacht‹, bis einer es nicht mehr aushielt, auf den Tisch sprang und das Lautsprecherkabel aus der Wand riss, damit es endlich aufhörte mit Weihnachten und mit den Weihnachtsliedern, damit es endlich still war   … die anderen hoben nicht einmal die Köpfe und reichten schweigend die Zigarette herum. Die Kleineren, die noch genau wussten, wie ein geschmückter und leuchtender Weihnachtsbaum aussah und wie man Geschenke auspackte, die schluchzten nachts unter der Bettdecke, denn lautes Weinen konnte man sich nicht einmal zu Weihnachten erlauben.
    Jeder weinte in dieser stillen Heiligen Nacht. Der eine ins Kopfkissen, der andere in sich hinein. Auch Andrejko weinte, auch er hatte gehofft und fest daran geglaubt, dass ihn jemand besuchen kommen würde, dass er Jolanka wiedersähe. An sie, sein naseweises Schwesterchen, dachte er viel, auch an seine Mama, die nicht nach Prag gekommen war, den ganzen Tag stand er am Fenster, sah zum Tor hinüber, in den Fingern drehte er das silberne Kreuz, wischte sich mit dem dreckigen Ärmel die Augen und flüsterte, Mama, liebe Mama,
dajori mirori,
wo bist du, du hast mich doch nicht vergessen   … Aber solche wie ihn gab es dort so einige, jeder stand allein |91| an seinem Fenster, es standen hier mehr Kinder herum, als es Elternpaare gab, die wenigstens einmal im Jahr dieses Kostelec, wohin sie zu Weihnachten immer ihre Karten schickten, überhaupt auf der Landkarte zu finden versuchten.
    Aber beim Pförtner tauchte keiner auf, niemand fragte nach Andrejko, und der Kleine wartete vergeblich auf eine Postkarte, er hätte sich auch mit der dämlichsten zufriedengegeben. Die Tante, die kann nicht schreiben, dachte er fieberhaft nach, aber der Onkel, der könnte   … Auch wenn hinter ihm, Andrejko, die schwere Tür der Besserungsanstalt zugefallen war, ist er doch noch nicht gestorben, er ist doch kein Stück Trödel, das man vergessen hat, kein liegen gebliebenes Spielzeug oder eine weggeworfene Kaugummiverpackung. Vielleicht würden sie ihm gerne schreiben, kannten aber seine Adresse nicht, vielleicht hatten sie auch geschrieben, aber die Erzieher hatten ihm die Post nicht gegeben, um ihn dann anzubellen, dass keiner an ihn denke, dass er da draußen keinen mehr habe und dass sie ihn nicht mal zur Adoption freigeben würden, weil Zigeuner sowieso keiner haben wolle   … Wie oft hatte Andrejko schon vor dem Fenster gestanden, und jedes Mal hatte ihn eine schrille Erzieherstimme zusammengefaltet, was er eigentlich noch wolle, hier bekomme er was zu essen, hier habe er ein eigenes Bett und überhaupt, er solle sich endlich eingliedern und

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