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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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dankbar sein   …
     
    Gleich im Frühling büxte Andrejko aus. Beim ersten Ausgang verschwand er kurz ins Gebüsch, Pipi machen, und bevor die anderen kapierten, was vor sich ging, war er schon weg. Es überraschte ihn selbst, wie leicht es war, abzuhauen, und er schlug sich gegen den Kopf, worauf hatte er bloß all die Monate gewartet, warum war er erst jetzt abgehauen   … Die |92| Eisenbahngleise entlang machte er sich auf den Weg zum nächsten Bahnhof, verbissen und wütend, wie ein hungriger Hund, der eine Fährte witterte, und gegen Abend war er schon in Prag. Aber schon im Innenhof sah er, dass das Leben im Žižkover Mietshaus inzwischen anders verlief, als er es sich in seinen nächtlichen Wachträumen ausgemalt hatte. Die lauten Stimmen und der Gesang der Erwachsenen waren verschwunden, keine krakeelenden Kinder tollten hier herum, das Haus stand halb leer, die dort noch lebenden Dunkas grüßten ihn kaum, als wäre Andrejko ein Fremder. Onkel Štefan und die beiden älteren Cousins waren weg, Tante Idas Bauch wuchs schon wieder und sie machte sich Sorgen, aber Andrejko hörte ihr kaum zu, er hielt Ausschau nach Jolanka   …
    Abends krochen die Kinder zu ihm ins Bett. Milan wollte wissen, wie es in der Anstalt war, die kleine Anetka schmiegte sich an ihn und gab ihm einen dicken Kuss, statt Jolanka, sagte sie und sah ihn mit ihren riesigen schwarzen Kulleraugen an, und so schliefen sie auch ein, Andrejko in der Mitte, eine Hand unter Milans Kopf, die andere in Anetkas Umarmung, sie seufzten zufrieden und fühlten sich wohl.
    Trotzdem werde ich Jolanka heiraten, dachte Andrejko im Einschlafen, wenn sie wieder da ist, nehme ich ihre Hand und lasse sie nie wieder los.
    Doch schon am nächsten Morgen hielt ein Polizeiauto vor dem Haus, und zum Mittagessen war Andrejko wieder in der Anstalt, mitten im Speisesaal stand er mit kahl geschorenem Kopf, wegen der Läuse, hieß es bei den Erziehern, dabei wusste jeder, dass ein kahler Kopf Erniedrigung und Strafe bedeutete   – ein Hinweis für die anderen, wem sie das Ausgeh- und Fernsehverbot zu verdanken hatten. Nach dem Zapfenstreich warfen die Jungen die Decke über ihn, droschen |93| auf ihn ein und traten ihn mit den Füßen; eine Woche ohne Fernsehen, die dauert ja länger als die Ewigkeit   …
    Was ist denn mit dem los, gestolpert oder was, wunderten sich am nächsten Morgen alle, als sie vergeblich versuchten, Andrejko zum Aufstehen zu bewegen. Die Erzieherin ließ ihn ins Krankenzimmer bringen und schloss ihn vorsichtshalber dort ein, aber einen Arzt rief sie nicht, um keine Erklärungen abgeben zu müssen. Ihre einzige Sorge war, dass dieses stöhnende Knochenbündel nicht den Geist aufgab, bevor die Prellungen und Wunden verheilt waren. Selbst der Herr Direktor bemühte sich jeden Tag zu Andrejko: Kopf hoch, junger Mann, bald bist du wie neugeboren, rief er ihm schon von der Schwelle aus zu, und insgeheim freute er sich, dass der Halunke am Leben blieb, denn sonst würde er die Prämien verlieren, vielleicht sogar seine Stelle, die da oben hatten womöglich noch mehr Angst vor einem Malheur als er   …
    Aber Andrejko war zäh. Als er endlich aufstehen durfte, humpelte er ans Fenster, das ihn von der bunten und duftenden Welt da draußen trennte, sein Gesicht war zwar schmerzverzerrt, aber seine Augen leuchteten auf, sein Blick ging über den Zaun und die Anstaltsmauer hinweg: Dort flogen Vögel frei umher, dort schien die niedrige und freundliche Herbstsonne durch einen leichten Dunstschleier.
    Jeder in der Anstalt bekam mit, wie Andrejkos Blick bei den Schwalben verweilte, die sich auf den Telefondrähten zu ihrer langen Reise in die Wärme rüsteten, bei den Störchen und Wildgänsen, die in den Süden zogen   … Wenn ein Ausgang bevorstand, fand sich immer einer, der sagte: Er hat schon wieder Zigeunerisch gesprochen, Genossin Erzieherin   … und Andrejko durfte wieder nicht mit. Denn Romani zu sprechen war verboten, und Ausgang gab es nur zur Belohnung.
    |94| Eines Nachts stahl sich Andrejko auf die Toilette, quetschte sich durch das kleine Fenster und rutschte am Blitzableiter in den verwilderten Garten hinunter, kletterte über den Zaun, krabbelte durchs Gebüsch, schob sich durch die Brennnesseln und rannte hinaus aufs Feld, das offen vor ihm lag wie weit geöffnete Arme, seine Füße sanken in die frisch beackerte Erde, die frostige Luft drohte seine Lungen zu zerreißen, aber er musste weiterlaufen, jetzt ging es um alles, er

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