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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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sie riss sich los und rannte weg, und Andrejko hätte am liebsten laut geweint.
     
    Ida pilgerte von Amt zu Amt und vergoss ihre Tränen in diversen Gerichtssälen, und eines Tages bekam sie tatsächlich ihre Kinder zurück. Das war nicht leicht gewesen, sie musste alle von ihrem neuen Lebenswandel überzeugen, sie musste nachweisen, dass sie nicht mehr trank und einer geregelten |167| Arbeit nachging, auch wenn sie kaum Kraft dafür hatte: Schauen Sie doch, gnädige Frau, wie kaputt sie sind, Ida streckte der Richterin ihre Hände über die Holzabsperrung hin. Der kleine Tibor wird bald sechs, gnädige Frau, im Herbst geht er zur Schule, er braucht seine Mama, die gnädige Frau haben selbst gesehen, dass ich lesen kann   …
    Als sie die Wohnungstür aufschloss, zogen die Kinder den Kopf ein und trauten sich kaum zu atmen, was mochte sie bloß hinter der Tür erwarten? Aber schon im Flur waren sie beruhigt. Die Wohnung sah aus wie geleckt, alles war aufgeräumt, sogar die Wände waren neu gestrichen, vor den Fenstern hingen Gardinen, auf dem Tisch stand eine kleine Vase mit Margeriten, und auf jedem Kopfkissen lag ein Teddybär mit einer Schleife um den Hals. Andrejko schossen Tränen in die Augen, es war das erste Spielzeug, das er je bekommen hatte   …
    Ida träumte von einem Neuanfang, aber das alte Leben konnte man nicht einfach wegwischen und vergessen. Manchmal mussten die Kinder die Zähne zusammenbeißen und den Blick auf den Boden heften, wenn auf der Straße schon wieder einer auf die Mama zeigte und schrie, He, kuck mal, das ist doch die Nutte   … Aber sie redeten nicht mehr über das Vergangene, und allmählich kam es ihnen so vor, als ob sie das alles nur geträumt hätten. Ganz langsam kamen sie sich wieder näher, aber es dauerte viel länger, die Fäden wieder zu verknüpfen, als es gebraucht hatte, sie zu kappen.
    Ida versuchte es mit Märchen. Sie hatte den Kindern nie etwas erzählt oder vorgelesen, sie konnte ja erst seit Kurzem lesen, aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass die Kinder das brauchten. Und weil sie keine Märchen kannte, dachte sie sich eben welche aus. Sie handelten von dem, was sie tagsüber erlebt oder gesehen hatte, was ihr jemand erzählt hatte, wen sie getroffen hatte, und davon, was es zum Abendessen |168| gab   … Wenn sich die Kinder abends ins Bett legten, setzte sie sich zu ihnen und fing an zu erzählen, auch wenn sie häufig gar nicht wusste, von welchem Ende sie die Geschichte angehen sollte:
Jekh ciknoro čhavoro romano
, es war einmal ein kleiner Junge,
sas tuke jekh čoro Rom
, es war einmal ein armer Mann   … Sie erzählte von Menschen, die sie kaum kannte, und dabei erzählte sie von sich selbst, sie brachte die Wort- und Satzfetzen, die sie tagsüber aufgeschnappt hatte, zusammen und schlang sie wie Teigsträhnen ineinander, wie bei einem Hefezopf, manchmal flocht sie kleine Zöpfchen aus ihnen, wie bei Anetka, wenn sie sie morgens für die Schule anzog. Was sie nicht wusste, das dachte sie sich aus, und sie war sich absolut sicher, dass es sich wirklich so zugetragen hatte. Manchmal fühlte sie sich von ihren Erzählungen so ergriffen, dass ihr die Tränen kamen.
    Diese Gute-Nacht-Geschichten waren für sie so etwas wie eine Beichte, mit ihnen wischte sie den Schmutz fort, mit dem sie tagsüber in Berührung gekommen war. Die Kinder lagen still im Bett und hörten ihr zu. Auch Andrejko. Er schämte sich zwar ein wenig dafür, weil er sich für Märchen schon ein wenig zu groß vorkam, aber ihm hatte man abends nie etwas erzählt, abgesehen von den Liedern, die ihm seine Mama vorgesungen hatte, als er ganz klein war. Das war das Einzige, was ihm vom Poljana seiner Kindheit noch im Gedächtnis geblieben war: Seine schöne und liebe Mama hält seine Hand und singt leise, ihre Augen glänzen, und in der Tür sind die verwuschelten Haarschöpfe und schmuddeligen Gesichter von anderen Kindern zu sehen, die zwar tagsüber wie kleine Horden schreiender Teufel herumtobten, aber abends unbedingt seiner Mama zuhören wollten.
    In Idas Märchen ging es ganz gewöhnlich zu, nicht wie in den Märchen der Gadsche, in denen es vor lauter Königen |169| nur so wimmelte und vor Prinzessinnen, Wassermännern und Rittern in goldener Rüstung auf weißen Pferden, die mit neunköpfigen Drachen kämpften. Das war den Gadsche-Märchen auch anzumerken, dass sie nicht mit Herzblut, sondern mit dem Kopf gegen Geld geschrieben worden waren   …
    Mit den Zigeunerliedern

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