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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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Aufseher sprangen erschrocken zur Seite und zückten ihre Schlagstöcke und Waffen, sie hatten keine Ahnung, was hinter der Gittertür passiert war, und versuchten panisch, die Situation in den Griff zu bekommen. |203| Eine Handvoll Männer war nötig, um den rasenden Andrejko zu bändigen, sie warfen sich auf ihn, drückten ihn zu Boden, damit er endlich zu toben aufhörte, für jeden Arm und jedes Bein brauchte es einen starken Mann und auch einen für den Kopf, dann endlich hielten sie ihn fest. Andrejkos Leib wand sich in Krämpfen, und aus seinem offenem Mund tropfte Speichel auf den Fußboden. Ein paar Minuten später war alles vorbei, die Sirene verstummte und die Aufseher glätteten ihre zerknitterten Uniformen, Andrejko aber blieb reglos liegen, mit nasser Hose lag er auf dem Boden, und um ihn herum standen ratlos seine Mithäftlinge, sie tasteten ihre zerbissenen Handgelenke ab und wussten nicht, was sie tun sollten. Erst nach einer ganzen Weile kam ein Arzt, der ihm eine Spritze gab und ihn auf die Krankenstation bringen ließ.
     
    Jeder Häftling in Andrejkos Zelle wartete auf seine Verurteilung, und jedes Mal, wenn einer vom Verhör zurückgebracht wurde, stritten sie sich, wie viel man ihnen für die Vergewaltigung oder den Raubüberfall aufbrummen würde. Unter ihnen war einer, der in seiner Garage einen Ballon aus Seide genäht hatte, um sich nachts über die Grenze abzusetzen. Allerdings hatte er Pech, denn als er bereits geräuschlos über den schwarzen Wäldern von Klenčí und Čerchov schwebte, drehte der Wind   … Jeder von Andrejkos Zellengenossen glaubte, dass er heil herauskommen würde, dass er das alles nur geträumt hatte, und dass er eines Tages einfach draußen, in der Freiheit, aufwachen würde   … Als Andrejko anfing, wirres Zeug zu reden, fielen sie über ihn her und beschimpften ihn, der ist voll durchgedreht, hat ’nen Sprung in der Schüssel, sagten sie, ein Vollidiot isser, soll bloß die Klappe halten, ist doch nicht auszuhalten, so was von meschugge, verflixt noch mal, aufhören soll der, schrien sie, sonst drehen |204| wir durch! Aber keiner rührte ihn an, sie hatten ja alle seinen Anfall mit angesehen, er bekam regelmäßig was gespritzt und war damit raus aus dem Spiel, aus jenem Spiel, das auch im Knast eifrig betrieben wurde: wer in der Rangordnung oben steht und sich von den anderen das Rauschgetränk aus Zigaretten und Tee kochen lässt, und wer ganz unten landet und eines Tages zusammengetreten und zerschunden von den Aufsehern in einer Ecke gefunden wird oder von den anderen Häftlingen mit dem Kopf in die Abflussrinne gestoßen wird, damit sie sich von hinten an ihm abwechseln können   … Als die Tage und Wochen ins Land gingen, hörten sie allmählich auf, Andrejko zu beschimpfen und zu bedrohen. Im Gegenteil: Beim Hofgang schoben sie ihn wie ein Kind vor sich her und erlaubten keinem, ihn zu belächeln, geschweige denn ihm ein Haar zu krümmen.
    In diesem entrückten Zustand befand sich Andrejko auch während seiner Verhandlung. Jedes Mal, wenn sich seine aufgestauten Gedanken einen Weg aus seinem Kopf bahnen mussten, stand er auf, und während der Staatsanwalt mit donnernder Stimme über einen rücksichtslosen und brutalen Mord dozierte, sagte Andrejko, dass die Vögel draußen deswegen so leise zwitscherten, weil es kalt sei, oder dass Anetka kalte Füße habe. Und dann fing er an zu singen, oder vielmehr einzelne Worte von sich zu geben, wie ein kleines Kind, das im dunklen Keller eine auf der Straße aufgeschnappte Melodie trällert, um sich Mut zu machen:
Andro foros bari khangeri, rovel odoj cikňi čhajori   …
In der Stadt steht eine Kirche, darin weint ein kleines Romamädchen   … Die Herren in ihren Anzügen sahen sich verlegen an, der Staatsanwalt trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch, aber der Vorsitzende fand Gefallen an der Sache. Einmal fiel er sogar aus seiner Rolle und ließ Andrejko erzählen, dass es in |205| diesem Jahr viele Schlehen und Ebereschen gebe, weil ein langer Winter bevorstehe, und dass es die Störche in diesem Jahr nicht geschafft haben, in die warmen Länder zu fliegen   … Der Vorsitzende stand am Fenster und sah zu einem Schornstein mit einem Nest hinüber, über dessen aus Ästen und Stöcken kunstvoll geflochtener Krone zwei schlanke, vor Kälte steife weiße Hälse ragten, und er verstand nicht, woher Andrejko das wissen konnte, war doch der Schornstein weder von seinem Platz noch von der Tür aus zu

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