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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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andere Wahl. Die Alternative zum Militärdienst lautete Gefängnis, danach bis zum Lebensende nur Schikane, keine Chance auf ein Studium oder eine bessere Arbeit, sie konnten höchstens Schaufenster putzen, die Kanalisation säubern oder als Heizer oder Nachtwächter arbeiten   … Doch es gab noch einen dritten Weg. Eine Irrenanstalt war tausendmal besser als das große |208| graue Gefängnistor oder die Kaserneneinfahrt mit dem roten Stern und der Inschrift
Wir dienen dem Volk und dem Frieden
. Sterne und Parolen hingen an jeder Ecke, sie konnten aber allen gestohlen bleiben, weil jeder nur seine besorgte Mutter vor Augen hatte oder die Erinnerung an das letzte Mal, als er auf dem Bahnhof seine Liebste umarmt und sich gefragt hatte, ob sie auch wirklich diese zwei Jahre warten würde. Auf der ganzen Welt gab es keine Zahl, die größere Verzweiflung auslöste, als die 730, mit einem Ziegelstein auf eine Mauer geschrieben oder mit einem Nagel in eine Toilettentür geritzt, denn 730 entsprach der Summe der Tage und Nächte, die einen von der Rückkehr ins zivile Leben trennten.
    Hinter dem Zaun aus Stacheldraht und hinter Wachtürmen, in denen düster dreinblickende Scharfschützen herumlümmelten, war die Welt der Blumen, Straßenbahnen und bloßen Mädchenwaden zu Ende, dort tat sich die fremde Welt der Uniformen auf, dort gab es nur noch Gefängnisse oder Kasernen, nur noch Häftlingskleidung oder Soldatenuniform. Und Gregory, wie sich Jirka aus Domažlice nannte, Vašek und die anderen jungen Männer, die in Dobřany einsaßen, hassten Uniformen, sie wollten nicht hinter Schloss und Riegel landen   …
    In der Klapse konnten sie sich darüber austauschen, wer in Prag die besten Drogen mischte, wo es gute Lösungsmittel zum Schnüffeln gab und welcher Arzt gegen ein kleines Entgelt Pillen verschrieb, hier konnten sie darüber diskutieren, wie es weitergehen sollte, jetzt, aber auch später, sollten sie eines Tages entlassen werden, heimkehren auf ihr Walnussschiffchen, das tapfer durch den Ozean ihrer Träume segelte, zurück in ihre Kabuffs und verqualmten Kneipen, wo ihr Zottelhaar nicht weiter auffiel und sie in Ruhe ihre bescheidenen Evangelien verkünden konnten.
    |209| Ausgerechnet in dieser sonderbaren Gesellschaft fand sich Andrejko wieder.
     
    Alles verlangsamte sich. Wie eine verirrte Straßenbahn, die nach langem Ruckeln übers Kopfsteinpflaster endlich das verlorene Gleis wiederfand, auf dem sie gemütlich vom morgendlichen Fiebermessen bis zum abendlichen Zapfenstreich dahinzuckeln konnte, so fühlte sich auch Andrejko ganz im Bann eines geordneten Tagesablaufs. In Dobřany wurde über jede Essensausgabe, jede Visite und jede Pille Buch geführt, minuten- und krümelgenau, und wer das doof fand, dem sagte die Ärztin, es sei zu seinem Besten, man möge sich die jeweiligen Stationen gefälligst hinter die Ohren schreiben, damit man endlich aufhörte, vom Weg abzukommen.
    Einer seiner Zimmernachbarn war Míla, der beim Militärdienst windelweich geschlagen und brutal niedergetreten worden war, weil er auf Jungs statt auf Mädchen stand. Man fand ihn vor den Mülltonnen, Blut strömte aus seinen Handgelenken. Da kapierten auch die größten Dummbatzen, dass sie ein wenig über die Stränge geschlagen hatten, aber sie brachten doch noch einen kessen Spruch zustande: Los, kleb dich wieder zusammen, bist doch ’n Mann   … Seitdem tat sich Míla lieber von Zeit zu Zeit an zerstoßenen Glühbirnen gütlich oder fügte sich tiefe Schnitte in die Arme zu, nur damit er hierbleiben durfte und nicht zurück in die Kaserne musste   …
    Vašek, ein anderer Zimmernachbar, verbrachte ganze Wochen schweigend am Fenster oder über einem Buch. Während dieser Zeit speicherte er alles: jedes Wort, jede Stimmung oder Geste, die tagsüber an ihm vorbeigehuscht oder in der Luft hängen geblieben waren. Sein Kopf sog sie auf wie ein Schwamm das Wasser. Wenn es zu viel geworden war, sprudelte auf der Stelle alles heraus, als wäre in ihm ein |210| Damm gebrochen, ganz gleich, ob am helllichten Tag oder mitten in der Nacht. Von Vašek hieß es, man könne nach ihm die Schöpfungsgeschichte umschreiben; er vergaß zwar häufig, sich den Hintern abzuwischen, und konnte sich auch nie merken, welches Bett und welche Schuhe ihm gehörten, aber manchmal, wenn gerade über Frauen geredet wurde, wer mal welche gebumst hatte und wie sie zwischen den Beinen aussah, da blickte Vašek zur Decke, und ohne mit der Wimper zu zucken

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