Mach mich geil!
sehnte sich nach realen Berührungen. Da kam ihr die kleine Notlüge gerade recht, denn für ihre Doktorarbeit hatte sie alle relevanten Informationen zusammen.
Lys drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn, schlüpfte in Schuhe aus weichem Leder und strich sich ihre typisch römische Stola – ein langes, ärmelloses Kleid – glatt, bevor sie nach einem silbernen Ring griff. »Bis gleich!«
»Hm«, brummte Horentius und blickte seine Tochter nun doch an. »Pass auf dich auf, Lyssie.«
Lächelnd legte sie den kleinen Ring in eine spezielle Vorrichtung, an die ein Computer angeschlossen war. Dort programmierte sie die genauen Ankunftsdaten und den Ort mittels Satellitenkoordinaten ein, zuletzt noch die Zeit ihrer Rückkehr. Dabei kam sich die junge Frau jedes Mal wie Cinderella vor, die beim letzten Glockenschlag zu Hause sein musste. Sie konnte aber jederzeit schon früher zurückkehren, wenn sie auf den »Notfallknopf« drückte. Er sah auf dem Ring wie ein Aquamarin aus, war aber tatsächlich ein spezieller Kristall. Wenn man ihn zur Seite klappte, gelangte man an den winzigen Button.
Lysandra steckte sich das vermeintliche Schmuckstück an den Finger und aktivierte den Knopf unter dem blassblauen Stein. Für Horentius McMillan würde es aussehen, als verschwände seine Tochter nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn Lysandra würde fast zur selben Zeit wieder zurückkehren. Egal, wie lange sie unterwegs war.
Wenn Lysandra in die Vergangenheit reiste, fühlte sich das an, als würden ihr die Füße weggerissen und die Luft aus den Lungen gepresst. Ihr wurde schwarz vor Augen und schwindlig. Leichtes Kopfweh oder Magendrücken waren zum Glück die einzigen Nebenwirkungen, wenn der Kristall jedes Molekül ihres Körpers zerlegte und wieder zusammenfügte, nachdem die Ankunftszeit erreicht war.
Die Wärme des Bodens, der die Sonne gespeichert hatte, schlug ihr entgegen, als sie sich in einer schmalen Gasse materialisierte, sodass möglichst niemand ihr plötzliches Auftauchen bemerkte. Natürlich bestand immer die Gefahr, doch dann konnte sie noch schnell handeln und den Knopf drücken, um in ihre Zeit zurückzukehren, bevor sie richtig sichtbar wurde.
Zuvor hatte Lysandra natürlich genau die Überreste des alten Rom und besonders die Gegend um den Palatin – einen der sieben Hügel Roms – studiert, um nicht irgendwo im Nirgendwo anzukommen. Sie überprüfte noch einmal ihre für diese Epoche typische Hochsteckfrisur, die sie mit Bändern geschmückt hatte, und hoffte, dass auch ihr Make-up – rote Lippen sowie mit Kohlestift umrahmte Augen – noch am richtigen Platz saß, bevor sie sich auf den Weg zum Kolosseum machte. Sie befand sich hier in einer noblen Wohngegend, wo sich die aus Stein erbauten Häuser der aristokratischen Oberschicht gegenseitig an Luxus überboten. Die Reichen ließen es sich nicht nehmen, sich in Sänften tragen zu lassen, ansonsten kam man nur zu Fuß am besten voran. Pferde oder Karren waren tagsüber auf den meisten Straßen ohnehin nicht gestattet.
Lysandra schlängelte sich durch belebte, enge Straßen, die durch die Verkaufsstände der Händler noch schmaler wurden. Staub kitzelte in ihrer Nase, die Abendsonne brannte noch kräftig auf ihrer Haut. An der einen Ecke duftete es berauschend nach erlesenen Ölen, an der anderen stank es nach Unrat. Menschen der unterschiedlichsten Hautfarben und Nationen lachten, plauderten, feilschten und schimpften.
Lysandra wich Tauben aus, die am Boden nach etwas Essbarem pickten, und wäre beinahe mit einem Bettlerkind zusammengestoßen, das von einem erzürnten Kaufmann durch die Straße gejagt wurde.
Kichernde Frauen, die aus einem Badehaus kamen, zogen Dampfschwaden hinter sich her, die die warme Abendluft mit Parfüm schwängerten ... Ein Stück weiter saßen verstümmelte Söldner auf dem staubigen Boden, um sich ein paar Münzen zu erbetteln.
Lysandra verharrte einen Moment bei einem Forenredner, der über die Untugend motzte, Kinder von griechischen Lehrersklaven mit Buchstaben verderben zu lassen, statt sie ans Schwert zu zwingen. Lys saugte jedes Wort auf, das sie aufschnappte, und versuchte es im Geiste nachzusprechen. Wie alle Wissenschaftler ihrer Zeit beherrschte sie perfekt die Sprache der Gelehrten: Latein. Lange hatte man geglaubt, diese »tote« Sprache hätte keine Zukunft, doch sie hatte eine Renaissance erlebt. Das kam Lys jetzt zugute, auch wenn es sich vom »Gossenlatein« doch erheblich unterschied. Bei
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