Mach mich nicht an
allerdings ausgeschlossen war.
Sie musste dringend aus dem vom Feuer verwüsteten Gästehaus flüchten, sonst würde sie früher oder später ihrem Impuls nachgeben, ihn in die Arme schließen und ihm sagen, wie gut sie seinen Kummer nachvollziehen konnte. Dass sie immer für ihn da sein wollte. Plötzlich verstand sie, weshalb Lola nach all den Jahren gegangen war. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass Annabelle nicht gewillt war, ihr Leben einem Mann zu opfern, der sie nicht liebte.
Vaughn weckte so viele geheime Sehnsüchte in ihr, dass sie die meisten davon nicht einmal benennen konnte. Und er verstand es verdammt gut, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, was diese Sehnsüchte nur noch verstärkte. Seine Eltern hatten ihn gelehrt, sich auf nichts und niemanden zu verlassen und auf Distanz zu gehen, sobald es Schwierigkeiten gab. Sie hatte keine Eltern gehabt, von denen sie derartige Dinge lernen hätte können.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie diese Partie wohl enden würde.
Annabelle fuhr vom Gästehaus zu Vaughns Haus, um Boris zu holen. Sie steckte den Kleinen in sein Körbchen und machte sich auf in die Stadt. Da sie diesmal mit dem eigenen Wagen gekommen war, konnte sie die Gegend nun nach Herzenslust erkunden - und genau das hatte sie auch vor.
Sie passierte die Highschool samt dem legendären Football-Feld, das inzwischen nach Brandon Vaughn benannt war. Dann kam sie am Heim seiner Eltern vorbei, das einem Märchen entsprungen schien: Weißer Palisadenzaun, ein Meer von Margariten überall und auf der Veranda eine Hollywoodschaukel für zwei Personen. Wie kam es nur, fragte sie sich bedrückt, dass zwei Menschen, Eltern , in einer so perfekten Kulisse leben und ein Kind zur Welt bringen konnten, nur um diesem Kind das Leben dann zur Hölle zu machen?
Anstatt links auf die Straße abzubiegen, die sie geradewegs ins Stadtzentrum geführt hätte, fuhr sie den etwas längeren Weg durch die Vororte, damit sie noch einmal an Vaughns derzeitigem Domizil vorbeikam; das Haus, das er gekauft hatte, um genügend Ruhe, Frieden und Platz zu haben. Dabei bot es ihm weder Ruhe noch Frieden, sondern hob lediglich noch stärker hervor, was ihm im Leben fehlte. Ganz anders sein gemütliches Gästehaus, mit dem er wenigstens einen Teil der Leere füllen konnte, die ihn insgeheim quälte.
Sie hatte das Gefühl, ihn nun ein bisschen besser zu verstehen. Die nie versiegende Hoffnung, dass seine Eltern sich eines Tages doch noch ändern würden, hielt ihn davon ab, in eine andere Stadt zu ziehen. Also hatte er dieses Haus gekauft, um sich von seiner lieblosen Familie abzugrenzen. Aber er hatte sich das unwirtlichste Heim ausgesucht, das er hatte finden können und nichts getan, um es ein wenig behaglicher zu gestalten. Wahrscheinlich nicht, weil er dazu nicht in der Lage war, sondern vielmehr, weil er nie Liebe erfahren hatte und nicht wagte, sich nun darauf einzulassen. Als sie den Wagen auf dem Parkplatz des Supermarktes abstellte, wusste sie allerdings immer noch nicht, ob Vaughn sich jemals ändern würde - und falls ja, wann.
Sie war kaum aus dem Auto geklettert, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie spähte über die Schulter und sah zu ihrer großen Verwunderung, wie Estelle Vaughn ihr winkte und mit einem gewinnenden Lächeln im Gesicht zielstrebig auf sie zueilte.
»Aha, jetzt wird es interessant«, murmelte sie Boris zu, der sein Köpfchen aus dem Korb streckte und sich neugierig umschaute.
»Miss, ähm... Annabelle, ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«
Annabelle wandte sich um und wartete, bis Vaughns Mutter bei ihr angekommen war. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
»Hätten Sie Lust, eine Tasse Kaffee mit mir zu trinken?«, kam es prompt zurück. Annabelle war überrascht. »Hier um die Ecke gibt es ein Café. Sie sind eingeladen.«
Letzteres hatte sie so rasch hinzugefügt, als fürchte sie, Annabelle könne ablehnen.
»Tja, der Lebensmitteleinkauf kann ruhig noch eine Weile warten.« Sie lächelte Estelle freundlich an, um ihr das erkennbare Unbehagen zu nehmen. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Boris mitnehme.« Sie drehte sich zur Seite und präsentierte die herzige Schnauze des Hündchens.
»O, ähm, nein, nein.« Estelle streckte zaghaft die Hand aus.
»Nur zu, er beißt nicht.«
Mrs. Vaughn tätschelte Boris den Kopf, worauf dieser versuchte, aus dem Korb zu hüpfen.
»Bleib, wo du bist«, befahl Annabelle.
Fünf Minuten später
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