Machen Sie sich frei Herr Doktor!
blickte ihn verständnislos an. »Französisch«, erklärte er. »Ich versuche mein Vokabular für diese Brüder vom Kontinent zu verbessern.« Mit einem zweiten Schlüssel öffnete er eine hölzerne Mikroskopkassette auf der Bücherstellage und entnahm ihr eine Whiskyflasche mit Syphon.
»Samantha wäre gern gekommen, aber sie mußte nach Guildford zurückfahren«, sagte Josephine und nahm ihr Glas. »Sie sagte, es täte ihr leid, da sie dich seit Ewigkeiten nicht gesehen habe.«
»Unsinn. Ich traf Samantha letzten - letzten Februar. Wie schnell doch die Zeit vergeht.« Der Dean nippte an seinem Sherry. »Samanthas neuer Kaplan erschien heute in meinem Büro. Sah aus, als hätte er eine ordentliche Mahlzeit, einen Friseur und einen guten Schneider nötig.«
»Du hast ihn getroffen!« Josephines Gesicht strahlte. »Ist er nicht großartig?« Der Dean starrte sie zornig an. »Was hast du mit ihm zu tun gehabt?«
»Er sprach heute nachmittag zur Liga der Freunde. Wir fanden ihn ungeheuer aufrichtig und regelrecht faszinierend.«
»Er geht in seiner Unterwäsche spazieren.«
»Du bist bloß voreingenommen, statt eine Kirche zu bewundern, die mit der modernen Gesellschaft Schritt hält. Die Mediziner versuchen es nicht einmal.«
Der Dean hob warnend den Zeigefinger. »Meine Liebe, diese Bemerkung ist beleidigend. Man kann doch wohl nicht leugnen, daß niemand ein besseres Verständnis für die Menschen aufbringt als die Ärzte.«
»Nur wenn diese Menschen krank sind, Lionel«, verbesserte ihn seine Frau sanft. »Du vergißt, daß das nicht der Normalzustand ist, in dem die Menschen gern ihr Leben verbringen. Jedenfalls habe ich Mr. Becket Sonntag zum Lunch eingeladen.« Der Dean kratzte mit der linken Hand sein rechtes Ohr, bei ihm stets ein Zeichen äußerster Gereiztheit. »Und du wirst ihm nicht den Beaujolais vorsetzen, den du in der Studenten-Tombola gewonnen hast, sondern den guten Claret von diesem gichtigen Buchmacher.«
»Warum soll ich in meinem Haus Narren und Hanswurste empfangen - mit oder ohne Priesterweihe? Wo wir eben den pervertierten Psychiater Bonaccord aus dem Nebenhaus losgeworden sind.« Der Dean zeigte mit Abscheu auf das rechte Nachbarhaus. »Ich glaube, Bonaccord war so überdreht, daß man ihn mit einem Flaschenöffner hätte katheterisieren können. Ach, guten Abend, Liebling.«
»Guten Abend, Vater, guten Abend, Mama.«
»Jetzt, da du den Fittichen des Mädchenpensionats endgültig entwichen bist...« Der Dean summte ein paar Takte aus »Der Mikado«, »hast du, glaube ich, Anrecht auf ein abendliches Glas Sherry.«
»Liebend gern, Vater.« Faith’ Stimme klang so rauh und erregend, als hielte Kleopatra ihren Monolog an die Schlange.
Er schenkte ihr einen Schluck Sherry ein. »Prost, Liebling. Oder Chin-chin, wie wir zu sagen pflegten, als ich in deinem Alter war. Natürlich durfte ich in deinem Alter noch keinen Sherry trinken - und auch keine Vorführungen mit nackten Frauen besuchen.«
»Was für ein seltsamer Vergleich«, bemerkte Josephine.
»Aber die Zeiten ändern sich radikal. Ich glaube, heutzutage kann man deiner Mutter und mir, die wir drei Kinder in die Welt gesetzt haben, bereits biologische Umweltverschmutzung vorwerfen.«
Seine Frau trank ihren Whisky aus. »Vielleicht war es gut, daß ich das Baby verlor, das wir letzten Herbst erwarteten. Als Sir Lancelot den Ärger mit Dr. Bonaccord hatte. Wir wären recht ältliche Eltern gewesen, nicht? Besser warten, bis unsere drei die Welt mit unseren Enkeln verunreinigen.«
»Möglich, durchaus möglich... Weißt du noch immer keine witzige Geschichte, Faith?«
Der Dean goß sich ein zweites Glas Sherry ein, da er nicht gern an peinliche Vorfälle erinnert wurde. Sir Lancelot wußte drei komische Geschichten, die er unentwegt bei jedem Spitalsdinner erzählte; der Dean wußte sie auswendig, aber leider waren sie viel zu detailliert anatomisch. Wen immer er sonst in der Klinik gefragt hatte, wußte bloß den Witz vom Rektalspiegel und dem Glasauge. Er könnte bei Gelegenheit Professor Oliphant fragen... dem Dean fiel ein, daß er den Professor den ganzen Tag nicht gesehen hatte, und er fragte sich teilnahmslos, ob er wohl noch im Aufzug stecke. Er erinnerte sich, daß Reverend Nosworthy eine komische Geschichte über Petrus und die Himmelstür gewußt hatte, um Patienten auf dem Sterbebett aufzuheitern, aber auch das war nicht so ganz passend. Vielleicht konnte der neue Kaplan etwas bieten? Doch nein. Der sah nicht
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