Machen Sie sich frei Herr Doktor!
Lebenswerk.« Er entschloß sich, noch eine Weile im schwarzen Sumpf des Elends zu waten. »Ich habe der Welt alles gesagt, was ich weiß. Vielleicht hörte die Welt nicht besonders aufmerksam zu. Aber vielleicht wird sie es tun, wenn nur noch das Echo zu hören ist.« Er nahm sich vor, den Satz in seinem nächsten Buch zu verwenden; ein professioneller Schriftsteller kann es sich ebensowenig wie ein guter Koch leisten, etwas zu verschwenden.
»Aber, Onkel Auberon, du hast doch noch Jahre zu leben. So alt bist du doch nicht.«
»Wer weiß?« Eine andere Vision tauchte auf: Er sah sich wie den siebzehnjährigen Dichter Thomas Chatterton in der Tate Gallery liegen - blaß und schön im selbstgewählten Tod. Das wäre eine Lehre für Samantha. Mit der Zehe wies er auf die Tasche des Dean. »Dieses Haus muß voll von den gefährlichen Medikamenten sein.«
Sie hauchte: »Du würdest doch nicht?«
Er sah zwei Tränen über Faith’ pfirsichgleiche Wangen laufen. »Man kann keinem Menschen sein letztes Recht nehmen - das Recht, sich zu töten«, sagte Auberon genüßlich.
Plötzlich beugte Faith sich vor und küßte ihn zärtlich auf die Lippen.
Dann richtete sie sich wieder auf und flüsterte: »Hast du etwas dagegen?«
Es entstand eine Pause. »Hm... nein, natürlich nicht«, sagte er verwirrt.
»Nur so konnte ich das Ausmaß meines Mitleids ausdrücken.«
»Nun, es ist eine...« Auberon war immer noch verstört. »Eine sehr nette Art.«
»Soll ich es nochmals tun?« - »Wenn du willst.«
Es würde herrlich werden. Er sah es bereits vor sich... der vernachlässigte, mißverstandene, seelisch leidende Künstler, dem Leben wiedergegeben durch die reine Liebe eines süßen jungen Mädchens. Eine Mischung aus Biedermeier und Lolita. Natürlich war sie seine Nichte ersten Grades. Aber er glaubte sich zu erinnern, daß eine andere bekannte Persönlichkeit mit einer hübschen jungen Nichte eine längere Affäre hatte. Wer war es nur? Ach ja. Adolf Hitler. »Hm«, sagte Auberon. »Vielleicht ist es besser, du läßt mich jetzt Weiterarbeiten.« Sie sah über seine Schulter. »Was du da geschrieben hast, ist sehr, sehr schön.«
»Findest du?« Seine Laune besserte sich wieder.
»Aber du hast Tal falsch geschrieben, und die Grammatik des ersten Satzes stimmt nicht. Wiedersehen, Onkel Auberon. Heute abend werde ich für dich beten.«
Er war allein. Er riß das Blatt Papier aus der Maschine und warf es in den Papierkorb des Dean. Jetzt schrieb er:
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DIE WAHRHEIT ÜBER MIRANDA
Erstes Kapitel
Als das junge Mädchen an einem Aprilmorgen erwachte, spürte sie eine Frische, die darüber hinwegtäuschte, daß die kurzen Wintertage eben erst vorüber waren, die jedoch verkündete, wie nah der Sommer war, dessen die Menschen nie müde werden. Die Sonne war ein gelber Ball in einem Wattehimmel, während über den Tälern bewegungslos nebelige musselinähnliche Schleier hingen...
8
In diesem Augenblick lag einer der Romane Auberons - »Die Gummifrau« - in Sir Lancelots Hand. In einem orangefarbenen T-Shirt, bis zum Knie reichenden Khakishorts und langen weißen Socken war er nach dem Frühstück zur Schiffsbibliothek spaziert. Mit bequemen Lederfauteuils und Schreibtischen ausgestattet, lag sie in einem Winkel des Promenadendecks und schien ihm weniger für kulturelle Ambitionen denn als Zuflucht vor allzu gesprächigen Mitreisenden geeignet. Er hatte Auberons Buch aus einem Regal genommen, nicht so sehr aus literarischem Interesse, sondern weil er den Autor hin und wieder beim Dean getroffen hatte und wissen wollte, ob er ihn gedruckt ebenso geistlos finden würde.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte der Bibliothekar mit jener gedämpften Stimme, die dem Publikum in Gegenwart vieler Bücher oder einer Leiche angemessen erscheint.
»Haben Sie etwas über Schweine?«
»Schweine, Sir?« Der Steward runzelte sorgenvoll die Stirn. »Bücher über Schweine werden selten verlangt.« Er dachte einen Augenblick nach. »Aber ich habe etwas über Meerschweinchen.«
»Das erfüllt vermutlich den gleichen Zweck. Ist nur eine Frage der Größenordnung.«
Der Steward durchsuchte die Regale. »Der letzte Schiffsarzt schenkte es der Bibliothek, Sir. Er hielt Meerschweinchen in seiner Ordination.«
»Wie löblich, daß er sich mit experimenteller Medizin beschäftigte.«
»Ach, er machte keine Versuche mit den armen Dingern, Sir. Hätte ihnen niemals ein Haar gekrümmt, wie man so sagt. Sie seien seine einzigen
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