Machen Sie sich frei Herr Doktor!
sein als an meinem Grab.«
»Lionel!«
»Nur ein ganz theoretisches Beispiel«, fügte er rasch hinzu. »Was sagte er überhaupt?«
»Er fragte Faith heute morgen, wo du die gefährlichen Medikamente hast.«
»Aber er darf nicht Selbstmord begehen«, sagte der Dean erbost. »Jedenfalls nicht hier. Nicht, wenn der Besuch der Königin bevorsteht. Das würde ja schrecklich aussehen! Man würde mich bestimmt nicht zum königlichen Hofarzt ernennen, wenn in meinem eigenen Haus Selbstmorde Vorkommen. Es würde das Vertrauen ganz erheblich erschüttern.«
»Faith behauptet, es sei ihm ernst damit gewesen. Und ich bin überzeugt, daß ein Mann wie Auberon nicht ein unschuldiges junges Schulmädchen mit solchen Reden ängstigen würde, wenn es ihm nicht bitterernst wäre.«
Der Dean runzelte abermals die Stirn. »Also, was können wir dagegen tun? Ich habe immer jeden, der mit Selbstmord drohte, zu Kaplan Nosworthy geschickt. Er hat ihnen zwar den Himmel in so leuchtenden Farben gepriesen, daß es nach einem Prospekt für Ferienreisen klang. Was diesen neuen Kerl von einem Becket betrifft, der könnte einen auch zum Mord treiben. Ich werde lieber selbst mit Auberon sprechen. Ihn als klinischen Fall behandeln.«
»Übrigens, Lionel«, fiel Josephine plötzlich ein, »du kommst morgen in die Kapelle von St. Swithin.«
»Fällt mir nicht im Traum ein.«
»Doch. Es wäre ungemein unhöflich, wenn der Dean der medizinischen Fakultät der ersten Predigt des neuen Kaplans fernbliebe.«
»Ich besuche die Kapelle immer zu Weihnachten, und das scheint meine hohe Moral für den Rest des Jahres aufrechtzuerhalten. Ich habe keine Veranlassung, die Dinge zu übertreiben.«
»Mr. Becket hat einen Kirchenstuhl für dich reserviert.« Der Dean griff mit der linken Hand hinter den Kopf nach seinem rechten Ohr. »Und du wirst einen deiner ordentlichen Anzüge anziehen, nicht diese schreckliche Tweedjacke, die du sonntags zu tragen pflegst und die du auch während unserer Flitterwochen anhattest.«
»Onkel hat mich heute morgen geküßt«, sagte Faith ruhig.
Ihre Eltern unterbrachen den Streit und starrten sie an. »Auberon, Liebling?« fragte ihre Mutter ungläubig. »Zweimal. Mitten auf den Mund. Ich war zu erschreckt, um mich zu wehren.«
»Aber doch sicherlich auf ganz onkelhafte Art?« sagte der Dean hoffnungsvoll.
»Nein, Vater. Er sah sehr sexy aus. Und er gab Töne von sich wie unser Hund, wenn er den Briefträger riecht.«
»Großer Gott«, rief der Dean. »Dein Bruder, Josephine - er ist so abwegig wie ein Weihnachtspudding bei einem Picknick.«
Seine Frau sah tief besorgt aus. »Offensichtlich ist er geistig gestört, der arme Junge. Vorübergehend natürlich. Sicher verließ er auch deshalb Samantha. Wir dürfen nicht vergessen, Lionel, daß große Künstler nicht diese langweilige, monotone Stabilität von Menschen wie du und ich besitzen.«
»Er muß zu einem Psychiater gehen«, erklärte der Dean mit Nachdruck. »Das ist es. Damit wird diese Mischung aus Selbstmord und sexuellem Appetit auf Schulkinder in Ordnung kommen.« Wie alle Ärzte von St. Swithin hielt der Dean die psychiatrische Abteilung für einen brauchbaren Papierkorb, in den man jede Person kopfüber hineinstopfen kann, deren Verhalten irgendwie den geordneten Ablauf der Klinik stört. »Ja, das ist die Lösung. Wir müssen ihn als dringenden Fall behandeln. Ich werde das sofort in die Wege leiten.«
»Hallo!« Auberon platzte fröhlich ins Zimmer.
»Faith, Liebling«, sagte Josephine rasch, »komm, setz dich zu mir auf das Sofa.«
Auberon stand auf der Türschwelle und starrte sie an. »Mein Gott, seht ihr trübsinnig aus! Und das an einem Samstagabend. Ist das Fernsehen gestört, oder was ist sonst los?«
Josephine zauberte sofort ein Lächeln auf ihre Lippen. »Nein, nein, Auberon. Wir sagten eben, wie herrlich es sei, einfach am Leben zu sein.«
»Ich möchte mit dir sprechen -«, begann der Dean entschlossen. Dann sah er, wie Faith den Finger an die Lippen legte. Ihr flehender Blick bat ihn, ihre bereits traumatisierten Gefühle zu schonen und die sexuellen Eskapaden des Onkels nicht zu erwähnen.
»Ja?« fragte Auberon erwartungsvoll und warf sich in den Stuhl, den Faith verlassen hatte.
»Hm - willst du einen Whisky?«
»Sehr freundlich von dir.«
Der Dean ging zu seiner Mikroskopkassette und nahm den Schlüssel aus der Tasche. Auberon schien ihm jedenfalls einer der vergnügtesten Selbstmordkandidaten, die er je gesehen hatte. Alles
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