Machen Sie sich frei Herr Doktor!
zumeist Krankenschwestern in Uniform. Sie alle schienen plötzlich religiös geworden zu sein. Seltsam. Einen guten Teil des Gottesdienstes gab der Dean sich der Beschäftigung hin, im Geist seinen Garten umzustechen und zu bepflanzen. Dann sang er alle Strophen von »Kämpfen wir den guten Kampf« nach einer falschen Melodie. Hierauf setzte sich alles nieder. Reverend Thomas Becket betrat zum erstenmal die Kanzel. Der Dean hatte erwartet, ihn in Anorak und Leibchen zu sehen, doch im Priestergewand sah die schlanke Gestalt und das schmale bärtige Gesicht mit den großen Augen erstaunlich gut aus. Selbst die Stimme mit dem Cockney-Akzent klang voll und überzeugend.
»In den drei kurzen Tagen, die ich in St. Swithin verbrachte, meine Brüder und Schwestern, konnte ich meine eigene Diagnose stellen«, begann er. »Das Spital ist krank, krank in der Seele. Krank, weil es den eigentlichen Sinn seiner Existenz vergessen hat -Barmherzigkeit zu üben an den Kranken, Not und Leid zu lindern und alle jene in Liebe aufzunehmen, die in ihrem Elend hierher flüchten.«
»Sehr beeindruckend«, murmelte Josephine, »schau dir Faith an.«
Der Dean sah, daß seine Tochter mit offenem Mund der Predigt lauschte. Er knurrte.
»Natürlich gibt es in St. Swithin viele wissenschaftliche Wunder, die zu verstehen ich mich nicht vermesse. Doch ist kalte Wissenschaft das einzige, was wir bieten können, meine Brüder und Schwestern? Ganz sicher nicht!« Reverend Becket schlug auf die Brüstung der Kanzel. »Mitgefühl ist ebenso wertvoll wie jedes Medikament. In vielen Fällen wertvoller. Und das fehlt leider in St. Swithin.«
»Was meint er, Liebling?« flüsterte Josephine.
»Nichts«, pfauchte der Dean ärgerlich. »Ich möchte sehen, wie der Kerl mit Glaube, Hoffnung und Mitleid auch nur den einfachsten Fall von Rheumatismus heilt. Ich ziehe Physiotherapie, Cortison und Bestrahlungen vor.«
»Und wie, meine Brüder und Schwestern, ist es in St. Swithin um die Spender der Barmherzigkeit bestellt? Um die Ärzte? Für sie habe ich eine einfache Botschaft: >Arzt, heile dich selbst.< Lukas 4, 23. Wie ungesund ist hier alles! Wie gleichgültig ist man gegenüber den spirituellen Bedürfnissen des Menschen. Welche Überheblichkeit! Welche Arroganz! Wie kalt und unbeteiligt ist man zu den eigenen Brüdern und Schwestern, die vorübergehend hilflos sind.«
»Lionel!« Josephine hielt den Dean am Ärmel zurück. »Du kannst jetzt nicht fortgehen«, flüsterte sie eindringlich. »Du hättest vorher gehen müssen.«
»Ich vertrage das nicht«, zischte er, »ich weigere mich, weitere Beleidigungen anzuhören, auch wenn sie noch so fromm sind.«
»Pst! Ich bin jedenfalls mit allem, was er sagt, einverstanden.«
Der Dean verschränkte die Arme und starrte bis zum Ende der Predigt auf den Einband seines Gebetbuches. Dann warf er statt einer Zehn-Pence-Münze fünfzig Pence in die Sammelbüchse. Schließlich kam der Kaplan auch noch in sein Haus, trank seinen Sherry und saß an seinem Tisch, und er mußte ihm ein Stück Lammschulter abschneiden.
»Ich fand Ihre Predigt so erhebend«, sagte Josephine über den blankpolierten Mahagonitisch. Sie waren zu viert; daß ein amerikanischer Verleger Auberon zum Lunch ins Hilton eingeladen hatte, war sein einziger schwacher Trost. »Fandest du nicht auch, Faith?«
»Sie war super, Mama.«
»Der alte Mr. Nosworthy war ja sehr gutmütig, Mr. Becket, aber seine Predigten erinnerten manchmal an die Tischreden der Präsidentin des konservativen Frauenbundes.«
»Leider verschwindet die Vorstellung, welche die Mittelklasse von der Göttlichkeit hat, nur sehr langsam, Lady Lychfield.« Der Kaplan trug einen steifen Kragen und einen flaschengrünen Samtanzug mit goldenen Fransen an den Ärmeln. »Ein Gentleman, der eine gute Privatschule besuchte, Mitglied des besten Golfklubs ist und einen soliden Börsenmakler beschäftigt.«
»Sie müssen auch uns ganz schrecklich bourgeois finden. Mit einem gutbürgerlichen Sonntag-Mittagessen und allem Drum und Dran.«
»Genug Saft für Sie?« knurrte der Dean und schob Becket die Fleischplatte zu.
»Köstlich, danke. Ich weiß, die Leute finden mich etwas arrogant. Aber ich kann nichts dagegen tun. Es ist meine Art. Oder vielleicht mein Name?« Er lächelte. »Dieser aufrührerische Priester<, dieser >Emporkömmling<.«
»Kartoffeln?« brummte der Dean.
»Danke. Übrigens freue ich mich, nächsten Donnerstag die Königin zu sehen. Ich hoffte eigentlich, Sir
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