Machen Sie sich frei Herr Doktor!
die Brauen hoch. »Hatte er Ausdauer?«
»Damit meinen Sie... o ja. Ja wirklich, große Ausdauer.«
»Ausgezeichnet. Ich meine, für Sie.«
»Manchmal bis zum letzten Satz der Fünften Beethoven.«
Dr. M’Turk starrte sie an. »Sie taten es mit Musikbegleitung?«
»Mein Mann sagte, es sei wie Wein zum Essen. Ich glaube, er ist ein perfekter Hedonist.«
»Andere Perversionen? Ketten? Vorhängeschlösser? Feuerwehrhelme? Vom Kasten springen? Nichts? Nun, Mrs. Dougal, soviel ich von Sir Lionel hörte - übrigens, in welcher Verbindung stehen Sie zu ihm ?« — »Wir sind gute Freunde.«
»Hm«, meinte Dr. M’Turk zweifelnd. »Sei das wie immer, Sie wollen von mir eine ärztliche Bescheinigung, daß Ihre geistige Gesundheit so delikat ist, daß der Ladendiebstahl durch das Trauma, welches das Verschwinden Ihres Gatten auslöste, erklärt und entschuldigt werden kann.«
»Dafür wäre ich Ihnen überaus dankbar.«
Dr. M’Turk klopfte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. »Mrs. Dougal, wenn man alle Ladendiebe freispräche, weil ein zuvorkommender Arzt bestätigt, daß sie Psychopathen seien, dann wären die Ladentische des Westend in kürzester Zeit so kahl wie die Oberfläche des Mondes. Nein, Mrs. Dougal, ich bedaure, aber ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Sie geistig völlig normal sind. Das einzige Falsche an Ihnen ist: Sie sind ein selbstgerechter Tugendbold. Guten Tag.«
Samantha stand auf. »Guten Tag, Dr. M’Turk«, sagte sie würdevoll. »Ich muß mich für die Aufmerksamkeit bedanken, die Sie mir schenkten. Es tut mir leid, Ihre wertvolle Zeit in Anspruch genommen zu haben, eine Zeit, die Sie Leuten hätten widmen können, die es mehr verdienen als ich.«
Sie verließ das Zimmer und drückte auf den Knopf des Aufzugs. Lionel wollte sie jetzt nicht sehen. Niemanden. Nur Auberon.
Starr vor sich hin blickend, ging Samantha durch die Halle und durch die automatische Tür, überquerte den Parkplatz und bog in die Lazar Row ein. Nach dieser beschämenden halben Stunde wollte sie nichts anderes als Trost, Ermutigung und eine Schmeichelei-Transfusion für ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein.
Sie läutete an der Tür des Dean. Faith öffnete.
»Hallo, Tante Samantha. Onkel Auberon ging eben fort. Er hat eine Verabredung zum Lunch, aber vorher muß er im Claridge einen Drink mit einer Schauspielerin nehmen. Er hat fortwährend Verabredungen zum Lunch und zum Dinner. Es muß herrlich sein, Schriftsteller zu sein.«
Samantha war enttäuscht. »Ist deine Mutter zu Hause?«
»Nein. Leider niemand außer mir. Du siehst nicht gut aus. Willst du nicht hereinkommen? Zu einer Tasse Kaffee und ein paar Schokoladekeksen?«
»Ich glaube, Kaffee ist genau das, was ich brauche.«
Faith schloß die Haustür. »Ich sah dich letzten
Sonntag im Fernsehen, Tante«, fuhr sie eifrig fort. »Du warst toll.«
»Danke, danke, liebe Faith.« Samantha hatte das Gefühl, niemals im Leben so dringend des Lobes bedurft zu haben. »Das hört man gerne.«
»Sogar Miss Clitworth liebt deine Programme, obwohl sie behauptete, das Fernsehen beleidige ihre Intelligenz. Doch wenn sie sich einschloß, genoß sie das Fernsehen - vor allem die Brutalitäten. Ich beobachtete sie durch den Netzvorhang.«
Sie gingen in die Küche. Faith stellte Wasser auf, und Samantha setzte sich erschöpft an den rosa Küchentisch. »Ich nehme an, du weißt von meinen Missetaten?«
Faith öffnete eine buntbemalte Keksdose. »Das war keine Missetat. Wenn die Geschäfte nicht wollen, daß man etwas klaut, warum legen sie dann alles so einladend hin?«
Samantha biß in ein Keks. »Das ist leider keine Entschuldigung.«
»Jedenfalls sagt Vater, du tatest es bloß, weil du im Augenblick unzurechnungsfähig warst.« Faith schüttete Kaffeepulver in zwei Tassen. »Wegen Onkel.«
»Leider ist auch das keine Entschuldigung. Ich war nicht unzurechnungsfähig. Oder vielmehr, ich bin ganz sicher, daß ich es war. Aber meine Überzeugung tut hier nichts zur Sache. Mir wurde soeben von einer Psychiaterin erklärt, daß ich in jeder Hinsicht normal bin.«
»Dr. M’Turk.« Faith goß kochendes Wasser in die Tassen. »Sie wohnt neben uns und ist furchtbar komisch. Früher hielt sie in ihrem Schlafzimmer Wüstenspringmäuse. Aber eines Tages fraßen sie sich gegenseitig auf.«
Sie setzten sich an den Tisch und tranken Kaffee. »Natürlich bist du normal, Tante. So normal wie Miss Clitworth.«
»Ich glaube, ich sollte dafür dankbar sein, besonders in dieser
Weitere Kostenlose Bücher