Macho Man: Roman (German Edition)
Bedeutung, je nach Situation.«
»Ach ja?«
»Ja. Wenn ich zum Gemüsehändler ›Ich liebe dich‹ sage, dann hat das eine ganz andere Bedeutung, als wenn ich es zu dir sage.«
»Moment... Du hast dem Gemüsehändler ›Ich liebe dich‹ gesagt?«
»Ja. Aber es bezog sich doch nur auf die Artischocken.«
»Und das weiß er.«
»Natürlich weiß er das. Alle Türken reden so.«
Ich habe das inzwischen als orientalische Kommunikation akzeptiert. Es ist vielleicht auch ein wenig albern, auf einen 60-jährigen Gemüsehändler eifersüchtig zu sein, der einen Buckel hat und seinen Schnäuzer über den kompletten Mund wuchern lässt, um die vier fehlenden Zähne zu verdecken.
Auf jeden Fall tun wir Deutsche uns schwer mit dem Verbalisieren der Liebe und sind daher darauf angewiesen, sie uns durch Taten zu beweisen. Und eben dies tut gerade mein Vater, indem er sein Glas erhebt und sagt:
»Auf Trabzonspor, den besten Verein der Welt.«
Das ist deshalb ein Liebesbeweis, weil mein Vater sich als Wissenschaftler extrem der Wahrheit verpflichtet fühlt. Ich weiß einfach, dass es ihn ungeheure Überwindung gekostet haben muss, Begeisterung für einen Verein zu heucheln, der ihn eigentlich überhaupt nicht interessiert, und dann auch noch zu sagen, es sei der beste Verein der Welt, obwohl er natürlich weiß, dass diese Behauptung einer empirischen Prüfung nicht standhält. Also im Prinzip zwei kleine Lügen, und das nur, um mir den Weg in meine neue Familie zu ebnen! Und die kleinen Lügen machen sich bezahlt: Herr Denizoglu springt auf und hämmert auf die Schulter meines Vaters ein. Das Eis ist endgültig gebrochen. Ich merke, dass ich langsam tatsächlich eine Sympathie für Trabzonspor empfinde – schließlich hat mir dieser Verein jetzt schon zweimal aus der Patsche geholfen.
Als Frau Denizoglu meiner Mutter ihre Kitschsammlung präsentiert, findet diese die Werke des Neo-Nippessimus »faszinierend«, was zumindest teilweise der Wahrheit entspricht.
Jetzt kommt es allerdings zu einem interkulturellen Missverständnis. Als meine Mutter den Stoffharlekin mit weißem Porzellangesicht und einer schwarzen Träne mit den rosa Pailletten und silbernen Perlen im Kostüm erblickt (Platz 9 in meinem Kitsch-Ranking), entfährt ihr ein leiser Seufzer, weil es sie in diesem Moment Mühe kostet, ihren Ekel zu überspielen. Frau Denizoglu hält diesen Seufzer jedoch für einen Ausdruck der Bewunderung und will ihr das Meisterwerk schenken. Dass meine Mutter sich wehrt, hält sie wiederum für einen Akt der Höflichkeit. Nach gut drei Minuten hat sich Aylins Mutter auf orientalisches Pathos hochgearbeitet:
»Vallaha Frau Hagenberger, ich schenke diese Puppe von ganze Herz, ich schwöre, Sie werden mich unheimlich glücklich machen, wenn Sie nehmen meine Geschenk, das würde füllen meine ganze Seele mit große, große Freude, Vallaha billaha.«
Meine Mutter lächelt verkrampft und nimmt die Puppe. Wer sie gut kennt, der spürt ihre Verzweiflung. Denn in diesem Moment wird ihr bewusst, dass sie dieses Werk, bei dessen Anblick sich ihr der Magen umdreht, wahrscheinlich bis zu ihrem Todaufbewahren muss, um Aylins Mutter nicht zu verletzen. Wenn Aylins Mutter früher stirbt, könnte sie es als Grabbeilage loswerden, aber das ist unwahrscheinlich, denn Frau Denizoglu ist sechs Jahre jünger als sie. Das bedeutet, dass sich irgendwo zwischen den Originalskizzen von Joseph Beuys, einer Serie mit Bauhaus-Fotografien, der Giacometti-Plastik, diversen abstrakten Ölgemälden befreundeter Künstler und vier Betonskulpturen, die meine Eltern von der documenta mitgebracht haben, demnächst ein Stoffharlekin mit weißem Porzellangesicht und Pailletten befinden wird. Natürlich kann meine Mutter ihn in eine Schublade stecken und nur herausholen, wenn Familie Denizoglu zu Besuch kommt – aber sie wird immer wissen, dass der Stoffharlekin in der Schublade steckt, und bei jedem Blick auf die Schublade wird sie ihn sehen, und die Pailletten werden immer irgendwie im Raum sein und die reine pure kristallklare Aura der Postmoderne unwiederbringlich beschädigen ... Das multikulturelle Zusammenleben ist nicht nur aufregend und schön, es verlangt auch Opfer – das wird meiner Mutter in dieser Sekunde schmerzhaft klar, zum allerersten Mal.
Als sie Frau Denizoglu zum Dank viermal auf die Wangen küsst (meine Mutter lernt schnell), ist das Entsetzen in ihrem Gesicht noch deutlich zu sehen.
Aylins Vater bemerkt, dass seine Frau meine Mutter
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