Machos weinen nicht
seinem Inneren war ein Kiefer mit zehntausend Zähnen, und diese Zähne waren plötzlich alle von schrecklicher Karies befallen. Ihm fielen ihre Doc-Martens -Lacklederstiefel ein, die sie in Helsinki gekauft hatten, vor dem Warenhaus Stockman. Der Verkäufer hatte einen Ring in der Nase gehabt und geflochtene Rastazöpfchen, die ihm bis auf die Schultern hingen. Der Gedanke an die Stiefel rief in ihm ein Gefühl des Entsetzens hervor. Sie würde sie tragen, natürlich. Nur ginge jetzt nicht mehr er an ihrer Seite ... Stattdessen vielleicht »irgendein Cowboy«.
In dieser Nacht musste er arbeiten. In einen Metrotunnel mit abgestelltem Strom klettern und einen Artikel über die unterirdische Hölle von Petersburg schreiben. Damit er in den Tunnel durfte, hatte seine Redakteurin fast einen Monat lang die Instanzen abgeklappert und einen Haufen Papiere unterschrieben. Den Termin abzusagen war unmöglich. Um fünf vor zwölf war er mit dem Fotografen an der Metrostation »Technologisches Institut« verabredet. Schwankend, mit Schlagseite, stieg er die Treppe zur Station hinunter und hielt dabei nach dem Fotografen Ausschau. Haben Sie auch schon bemerkt, dass es ab einem gewissen, kritischen Grad von Betrunkenheit wehtut, wenn man die Augen hin und her bewegt?
Bis die letzten Passagiere verschwunden waren und der Strom abgeschaltet wurde, bewirtete eine junge Stationsaufseherin in blauer Uniform ihn und den Fotografen mit Tee. Sie warf dem jungen Mann einen sonderbaren Blick zu, als sie ihm den Tee eingoss. Wahrscheinlich wunderte sie sich nur, wie betrunken er war, aber damals sah er in allem auf der Welt nur Sex. Sobald er mit der Stationsaufseherin in einem unbeleuchteten Abschnitt des Tunnels allein geblieben war, griff er ihr unter den Rock. Ringsum war es staubig und schmutzig, er bemühte sich, sie nicht an die Wand zu drücken. Ihr üppiger Körper zitterte, sie flüsterte heiß, man werde sie sehen. Bald darauf kam der Fotograf aus dem Tunnel zurück. Die Pressevertreter in die weiter entfernten, vollkommen finsteren Streckenabschnitte zu begleiten, lehnte die Stationsaufseherin danach kategorisch ab.
Am Morgen ließ man sie wieder nach oben. Er wusste sehr gut, was er zu tun hatte. Er musste sofort zu ihrem Haus fahren und mit Farbe unter die Fenster schreiben, dass alle Cowboys Arschlöcher sind. Sie würde aufwachen, die Vorhänge zurückziehen und die Aufschrift lesen, und alles würde wieder gut werden. Der Himmel hing über ihm wie eine alte Decke: voller heller Löcher. Der Asphalt verzog sich unter seinen Füßen zu Schlaglöchern und Fallgruben. Die Augen zusammengekniffen, zerhackte er mit den Fäusten die Luft und ächzte: Sch-sch-scheiß-schlampe! Er überlegte sich sogar schon, wo er um halb sechs Uhr morgens Farbe kaufen könnte: an den rund um die Uhr geöffneten technischen Wartungsstationen. Die hatten doch bestimmt was, um die in der Nacht zerkratzten Autos auszubessern. Als er mittags zu Hause erwachte, begriff er, dass es zwecklos war zu trinken. In diesem Zustand schwitzt der Organismus jede beliebige Menge Alkohol wieder aus.
Zwei Stunden später fing er sie auf dem Weg zur Arbeit ab. Er verlangte, sie solle ihm sofort alles erklären. Was denn erklären?, wunderte sie sich. Sie war braun gebrannt und unerträglich begehrenswert. Tagsüber saßen sie im »Wilden Pony«. Auf dem Tisch brannte eine kleine Kerze. Sie sagte, es sei ein super Badeurlaub gewesen, und sie hätte ihm aus Istanbul Geschenke mitgebracht. Einen Ohrring mit einem Totenschädel und zwei CDs seiner geliebten U2. Am Abend fuhren sie ins »Blues-Style-Billard«. Er konnte Billard nicht ausstehen, aber für sie hätte er nicht nur Billard gespielt, sondern sogar eine lebende Viper verschluckt. In der Nacht erinnerte er sich daran, wie sie war, wie sie sich anfühlte, wie sie schmeckte, wie sie sich bewegte, wonach ihre schwarzen Haare rochen.
Die Paranoia schlug ihm ihre süßen Krallen ins Genick. Zuerst dachte er ständig an früher – ganz egal woran – einfach an sie. Sein krankes Hirn ließ um dieses Sandkorn eine Perle des Wahnsinns wachsen. Aus den kleinsten Hinweisen versuchte er, sich zusammenzureimen, was tatsächlich vor sich ging, rief sich Worte, sonderbare Blicke, alle Widersprüche in ihren Erzählungen zurück ins Gedächtnis. In seinem Kopf jagten sich die Bilder und raubten ihm das Bewusstsein. Als kein Platz mehr zum Weiterwachsen war, platzte ihm der Kopf in Stücke. Er steckte sich die fünfte
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