Machos weinen nicht
Artikel geschrieben – das sei sein Job, und der Konsul habe eine Note geschickt – das sei eben sein Job. Damit sei jetzt alles im Lot, und man könne wieder gut Freund sein.
Der junge Mann grub die Visitenkarte von Gesche Thinlei aus, rief ihn in seiner Moskauer Residenz an und klagte ihm sein Leid. Der Mönch käme und führe wieder, und ihn schleife man, unter anderem, durch die Instanzen. Der Tibetaner war betrübt: »Aim rili sorri! Kann ich irgendetwas für Sie tun?« Der junge Mann sagte, er wolle den Dalai-Lama telefonisch interviewen, man möge ihm doch seine Nummer geben und den Anruf ankündigen. Nach seiner Emigration aus Tibet lebte der Dalai-Lama in Indien. Lange rechnete der junge Mann den Zeitunterschied zwischen Petersburg und dem Himalaja aus.
Das Faxgerät in der Redaktion, von dem aus er anrief, ähnelte in der Form einem leninschen Panzerspähwagen. Man verband ihn rasch mit dem Pressesekretär des Dalai-Lama. Der Sekretär sagte, besser als zu telefonieren sei es, selbst herzukommen. Die Verbindung sei schlecht. Die englischen Worte verdrehend, erläuterte der Sekretär, bezahlen müsse er nur für die Tickets bis Delhi, alles Weitere würden sie übernehmen. Man würde ihn mit dem Auto vom Flughafen abholen und in einer Zelle unterbringen. Verpflegt würde er mit tibetanischen Plätzchen, und als Abschiedsgeschenk bekäme er einen vom Dalai-Lama geweihten weißen Schal. Er legte auf und hörte die indischen Schimpansen, wie sie mit keckerndem Gebrüll über die Lianen hüpften und wie irgendwo tief im Dschungel die großen Elefanten trompeteten und mit hoch erhobenen Rüsseln die unvernünftigen Affen zur Ordnung riefen.
An jenem Tag war das Mädchen mit dem Politiker auf Dienstreise in Moskau, aber sobald sie zurückkehrte, teilte er ihr mit, er werde nach Tibet fahren. Sie sah ihn an, als habe er vergessen, seinen Hosenschlitz zuzumachen. Sie bummelten über den Fontanka-Kai, und sie erzählte, ohne auch nur einen Moment den Mund zuzumachen, wie sie die Zeit verbracht habe. Wohin der Politiker sie ausgeführt habe, was für tolle Leute sie getroffen habe. Schon seit einigen Monaten redete sie von nichts anderem. Zu Hause überschlug der junge Mann vor dem Atlas in Gedanken schon die Zeit, die er von Delhi bis zur Residenz des Dalai-Lama brauchen würde, und die Namen der Städte – Saharanpur, Dschalandhar, Srinagar – pochten ihm wie alte Beschwörungsformeln in den Ohren. Sie sagte, der Politiker habe sie in das schickste Moskauer Restaurant eingeladen und dem Kellner fünfzig Dollar Trinkgeld gegeben. In der Luft schwebte der Duft nach Sandelholz, und am Horizont stieg wie eine Wand das gewaltige Massiv des Jomolungma empor und verschwand in der Höhe. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte sie ihm, worüber ihr Politiker mit dem ersten Vizepremier gesprochen habe, und er tat so, als interessiere ihn das brennend. In dieser feuchten, schlecht beleuchteten Stadt wurde ihm alles unerträglich. Sollten die Tibetaner ihm ihren Schal schenken. Wenn es unbedingt nötig war, wollte er ihn sogar tragen ... »Und dann sind wir am Zentralkaufhaus vorbeigefahren, und er hat nachgeguckt, wie viel Geld noch übrig war, und hat dem Fahrer gesagt, er solle halten, er wolle mir was kaufen.«
Sein Atlas war lange auf der Seite »Indien, Nepal und das Königreich Bhutan« geöffnet. Er wusste: Ihr werdet in dieser Stadt frieren, ich aber werde wegfahren. Mehrere Wochen lang ging er nicht ans Telefon. Zuerst dachte er daran, sich ein Gerät für automatische Nummernerkennung zu kaufen, um die wichtigen von den unwichtigen Anrufen zu unterscheiden. Aber dann begriff er, dass es wichtige Anrufe auf der Welt nicht gibt.
Er wusste, wie dieser Tag aussehen würde. Viele Sachen brauchte er nicht. Er würde nur den Rucksack mitnehmen, und was dort nicht hineinpasste, würde er sich in die Taschen stopfen. Beim Zoll würde er sich nicht lange aufhalten, sich als erster Passagier ins Flugzeug setzen und sofort die Stewardess rufen. Er würde nicht mit Aeroflot fliegen, auf deren Flügen es nur sehr wenig kostenlosen Alkohol gab, sondern mit Lufthansa. Bis Delhi (Flugzeit neun Stunden fünfzehn Minuten) würde er eine ungeheure Menge deutsches Bier, Bacardi mit Grapefruitsaft und starken Grappa trinken. Vielleicht würde er danach sogar in seinem Sitz einschlafen. Dafür würde dann, wenn er erwachte, die grimmige Sonne Indiens durch sein Bullauge stechen.
Er würde noch ein wenig betrunken sein,
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