Mach's falsch, und du machst es richtig
muß etwas geschehen!» Und es geschah tatsächlich etwas: So organisierte unter anderen das Ehepaar Jon und Tracy Morter via Facebook eine Gegenbewegung, der im Laufe des Jahres 2009 weit über eine halbe Million Menschen beitraten. Die beiden Engländer forderten die Mitglieder des sozialen Netzwerks dazu auf, zwischen dem 13 . bis 19 . Dezember 2009 einen Song der Metal- und Hip-Hop-Band «Rage against the machine» runterzuladen. Der Titel: «Killing in the Name». Das Ergebnis: Rund eine halbe Million Mal wurde die 1992 erstmals veröffentlichte Nummer gekauft. Platz 1 ! Damit belegte zu Weihnachten 2009 ein Song den ersten Platz, der mit der zigfach wiederholten Textzeile «Fuck you, I won’t do what you tell me» endet.
Zu Weihnachten 2010 wollten der Künstler David Hilliard, dessen Frau Julie Hilliard und dessen Freund John Rogers dem guten Geschmack ein weiteres Mal zum Durchbruch verhelfen, und zwar mit noch radikaleren Mitteln als im Jahr zuvor. Die ungeliebten Favoriten von «The X Factor», die schon wieder den Spitzenplatz zu übernehmen drohten, sollten nicht durch Popmusik besiegt werden, sondern durch ein Stück des Avantgarde-Komponisten John Cage. Deshalb hieß die – wieder über Facebook vorangetriebene Aktion – auch «Cage against the machine» [193] , eine unübersehbare Anspielung auf die erfolgreiche Kampagne von 2009 . Ins Rennen schickte man die Komposition mit dem Titel « 4 ’ 33 ’’», die von rund vierzig britischen Künstlern extra neu eingespielt wurde.
Die Komposition « 4 ’ 33 ’’» von John Cage ist in die Sätze I bis III gegliedert, enthält keine Noten, sondern pro Satz nur eine einzige Anweisung an die Musiker: « TACET ». Das ist lateinisch und bedeutet er/sie/es schweigt. Die Musiker kamen also Anfang Dezember 2010 im Studio One der legendären Dean Street Studios in London zusammen, nahmen ihre Gitarren zur Hand, setzten sich hinter ihr Schlagzeug und ihr Klavier – und rührten keinen Finger. [194] Wodurch ein musikalisches Unikat ins Rennen um die UK Single Charts geschickt wurde: das Ergebnis von exakt 4 Minuten und 33 Sekunden Nichthandelns. Stille also. Produziert von Paul Epworth, Clive Langer und Charlie Rapino, drei Profis ihres Fachs.
Nein, « 4 ’ 33 ’» hat es nicht an die Spitze der Charts geschafft; die Komposition landete auf Platz 21 . Und dennoch erzähle ich die Geschichte an dieser Stelle, zeigt sie doch auf eine einfache (und vergnügliche) Weise, worauf es bei der Kunst des Nichthandelns im Kern ankommt: die Zusammenhänge genau zu verstehen, in denen wir sie anwenden, und auf das genaue Timing zu achten. Wie wir beides idealerweise miteinander verbinden, zeigen die revolutionäre Komposition von John Cage, deren Neueinspielung im Jahr 2010 sowie die Positionierung in den Single-Charts: in einem Umfeld, das sich durch (kommerzielle) Songs definiert, muß jeder zum wirkungsvollen Akteur werden, der sich ihm durch exakt dosiertes Nichthandeln zu entziehen und ihm auch den passenden Ausdruck zu verleihen weiß. Viereinhalb Minuten Stille zu produzieren ist freilich nur
dann
eine Frage von Könnerschaft und Widerstand, wenn man sich der von Moment zu Moment wechselnden Zusammenhänge unseres Lebens in einer Weise bewußt ist wie John Cage. Er hat den Musikern, die sein Werk aufführen wollen, daher auch zwei wichtige Entscheidungen überlassen: mit welchen Instrumenten sie sein « TACET » umsetzen und wie lange das Stück dauern soll. Cage ging es also darum, ein Stück Nicht-Musik zu schaffen, das von seinen Nicht-Interpreten den konkreten Bedingungen angepaßt werden kann, um seine maximale antithetische Kraft zu entfalten. Sollten Sie es also für sinnvoll halten, können Sie die Komposition von Cage auch durch ein Alphorn und zwei Nasenflöten realisieren, und zwar sieben Stunden und 20 Minuten lang. Sollten Sie die Aufführungsrechte besitzen, befinden Sie sich mit Ihrem Vorhaben in vollkommener Übereinstimmung mit dem künstlerischen Willen des 1992 verstorbenen Komponisten.
Bedenken Sie, was alles
nicht
ist: Wie es uns geht, wie unser Leben verläuft und wie erfolgreich wir sind, hängt nicht nur davon ab, was
ist
, sondern auch davon, was alles
nicht ist
. So können Sie diese Zeilen hier auch deshalb lesen, weil
kein
Mann neben Ihnen steht, der Ihnen mit seiner Trompete ins Ohr trötet. Und Sie sind auch deshalb dazu in der Lage, weil Sie
nicht
blind sind und
keine
rasenden Schmerzen haben, die Sie daran hindern
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