Mach's falsch, und du machst es richtig
Bodenmarkierungen, bis nur mehr eine große, leere Verkehrsfläche übrigblieb, die allen zur Verfügung stand: Autofahrern, Lastwagenfahrern, Fußgängern, Fahrradfahrern, Kinderwagenschiebern, Skatern. Man hatte also den Straßenabschnitt erfolgreich zum Verstummen gebracht. Kein Schild mehr, das den Verkehrsteilnehmern gesagt hätte, wo sie entlangfahren, wo abbiegen, wo sie das Auto abstellen, wo sie die Straße überqueren, wo sie hinradeln und wo sie als Fußgänger gehen sollten. Die einzige Regel, die in Zukunft gelten sollte, lautete: «Rechts vor links», ganz so, wie man das in der ersten Stunde des Verkehrsunterrichts lernt. Das heißt: Die Gemeinde Bohmte machte – verglichen mit allen anderen Orten Deutschlands, ja, der Welt – exakt das Falsche, beendete sie doch einfach das gewohnte Spielchen, die Verkehrsströme lenken und reglementieren zu wollen. Aus. Ende. Schilder weg. Nichts tun und zusehen, was geschieht.
Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Sie nun erschrocken ausrufen: «Was soll
das
denn? Dann weiß doch keiner mehr, wie er handeln soll!» Richtig, würde Ihnen nun Herr Monderman antworten, genau das ist auch der Sinn der ganzen Sache: Wir wollen niemandem mehr die Entscheidung abnehmen, wie er sich als Autofahrer oder Fußgänger oder Fahrradfahrer bewegen soll. Und: Wir wollen Sie verunsichern, denn wir glauben an den paradoxen Satz: «Unsicherheit schafft Sicherheit.» Nun war der 2008 verstorbene Verkehrsplaner Monderman kein zynischer Anarchist, der andere aus purem Übermut aus dem Konzept brachte. Vielmehr wußte er sehr genau, wie Menschen reagieren, wenn man ihnen alle Verkehrsschilder und Bodenmarkierungen nimmt und sie darüber im unklaren läßt, wo genau sich die Straße befindet, wo der Bürgersteig und wo der Parkplatz. Sie handeln nämlich – intuitiv und unbewußt – schlagartig vorsichtiger und achten viel genauer auf die Besonderheiten des Ortes und auf die anderen Verkehrsteilnehmer. Der Grund: Es gehört zu einer anderen tief in uns verankerten Routine, auf unbekanntes Terrain und auf fremde Menschen mit erhöhter Aufmerksamkeit und Sensibilität zu reagieren.
Ganz im Gegensatz zu Situationen, die wir besonders gut zu kennen glauben: Weil unser Gehirn entwicklungsgeschichtlich auf Effizienz gepolt ist, reduziert es seine Betriebsamkeit automatisch. Es wäre wenig sinnvoll, der vertrauten Wohnhöhle jedesmal dieselbe intensive Aufmerksamkeit zu widmen; wir kennen ihre Tücken und Vorzüge, es hat also keinen Sinn, sie uns immer von neuem einzuprägen; außerdem würde dieses Verhalten unsere Aufmerksamkeit binden und wir solcherart übersehen, daß vor der Höhle ein wilder Bär (nein, diesmal kein Tiger!) darauf wartet, uns zu erlegen. Auf unbekanntem Terrain hingegen strengt sich unser Gehirn deutlich mehr an. Das Fremde muß verstanden und gemeistert werden, und das braucht unsere ganze Konzentration. Im Falle von Bohmte führte dieses Verhalten dazu, daß die Verkehrsteilnehmer automatisch langsamer fuhren, weil sie fürs Aufmerksamsein mehr Zeit und Ressourcen brauchten. Dadurch wiederum kamen die Autos flüssiger voran, weil alle im ungefähr gleichen (geringeren) Tempo unterwegs waren. Ein übriges taten die fehlenden Ampeln – kein rotes Licht mehr, das die dahinrollenden Autos hätte stoppen können. Überblicken wir dieses kleine Psychogramm der in Ratlosigkeit gestürzten Verkehrsteilnehmer, so werden wir die zentrale These des «Shared Space»-Konzepts, die ich vorhin zitiert habe, nicht mehr paradox, sondern plausibel finden: Unsicherheit schafft offensichtlich tatsächlich mehr Sicherheit. Und Nichtstun bringt die Menschen zur Vernunft. Zumindest in der Theorie.
Doch wie sah es in der Praxis aus? Was hielten Bohmtes Nachbargemeinden von den eigenartigen Vorschlägen des Herrn Monderman? Darüber gibt eine Abschlußdokumentation der Fachhochschule Osnabrück detailliert Auskunft [190] , wenn sie auch zu einem Resümee kommt, das jeder Leser anders beurteilen dürfte – je nach Vorstellung, welche Auswirkungen eine ideale Verkehrspolitik haben sollte. Ich jedenfalls entdecke vorrangig Positives darin, aber urteilen Sie selbst. Beginnen wir mit der Zahl der Autos und Lkws, die vor und während des Modellversuchs durch Bohmte rauschten. Diese Zahl habe sich nur «leicht» verringert. Diesbezüglich also Fehlanzeige. Dennoch bewerteten die Anwohner die Auswirkungen des kommunalen Nichthandelns vorwiegend positiv. Sie sprachen davon, daß sie die
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