Mach's falsch, und du machst es richtig
sie das Zeugnis mit aberwitzigen Lobhudeleien und irrealen Superlativen. So entspreche zum Beispiel die Formulierung «seine Leistungen haben in jeder Hinsicht unsere volle Anerkennung gefunden» der Note 1 , «er hat unseren Erwartungen in jeder Hinsicht entsprochen» einer 3 und «er hat die ihm übertragenen Arbeiten mit großem Fleiß und Interesse durchgeführt» nur mehr einer 5 . [203] Unsere Sprache braucht also ganz offensichtlich ebenso das Nein wie unser Denken, um nicht verrückt zu spielen.
Wenn wir hören, es sei
kein
Adler am Himmel, dann müssen wir uns erst einen Adler am Himmel vorstellen, um zu wissen, was wir uns
nicht
vorstellen sollen. Daher erreichen wir mit negativen Sätzen auch oft das Gegenteil des Geplanten.
Bob Parr ist ein ausrangierter Superheld. Weil die Menschen von Metroville glauben, ihn nicht mehr zu brauchen, haben sie ihm verboten, weiter die Welt zu retten. Um ihm ein Leben als normaler Bürger zu ermöglichen, hat man ihm eine neue Identität als kleiner Angestellter in der Schadensabteilung einer Versicherung verschafft. Dort bearbeitet Bob nun – trotz seiner Riesenkräfte – kleine Fälle. Oberstes Ziel des Unternehmens ist es jedoch nicht, seinen Kunden zu helfen, sondern möglichst große Gewinne zu machen. Deshalb versucht es auch, die Ansprüche der Versicherten abzuschmettern, selbst wenn sie berechtigt sind. Der tyrannische Abteilungsleiter Gilbert Huph läßt keine Gelegenheit verstreichen, seinen Angestellten an diese Aufgabe zu erinnern: «Sorgen Sie dafür, Bob, daß alle Pechvögel und Unglücksraben, die sich bei Ihnen ausweinen, nicht immer gleich abräumen!» Doch Bob hat nicht nur ein weiches Herz, sondern auch einen unbezwingbaren Gerechtigkeitssinn. Daher versucht er trotz des Verbots, armen Kunden zu helfen. Und wählt dafür eine Methode, die uns direkt zum Kern unseres Kapitels führt.
Als einmal eine ältere, hilflose Dame vor seinem Schreibtisch sitzt und ihn um Rat bittet, befolgt er zwar die Anweisung seines Chefs und teilt ihr mit, daß er
nichts
für sie tun könne – tut das aber überaus detailliert: «Ich kann Ihnen auch nicht raten, in unserer Rechtsabteilung im zweiten Stock eine Schadensregulierung zu beantragen», um dann abschließend festzustellen: «Ich würde gern helfen, aber ich kann nichts für Sie tun.» Es ist unschwer zu erkennen, was Mister Incredible – eine der Hauptpersonen des Animationsfilms «Die Unglaublichen» – hier tut: Der (heimliche) Superheld sagt der alten Dame sehr genau, was er ihr
nicht
sagen kann, versorgt sie damit aber mit allen notwendigen Informationen, damit sie zu ihrem Recht kommt. Daß die alte Dame diese Informationen zu dekodieren weiß und daher genau das richtige macht, verdankt sie einer fundamentalen Eigenart unseres Gehirns, der sich fünf Wissenschaftler in einer Studie angenommen haben [208] . Gleich zu Anfang ihres Aufsatzes stellen die Autoren klar, welche These ihrer Untersuchung zugrunde liege. So würden die meisten Wissenschaftler, die sich mit der Frage beschäftigten, wie wir Menschen Sprache verstehen, in folgendem einig sein: daß wir Texte entschlüsseln, indem wir ein mentales Modell der beschriebenen Situationen produzieren, ein «situation model», wie es im Englischen heißt. Lesen wir beispielsweise einen Satz, in dem es ums Kochen geht oder ums Fahrradfahren, dann wird in unserem Gehirn exakt jenes Areal tätig, das auch dann aktiv sei, wenn wir selber kochen oder Fahrrad fahren. Salopp gesagt: Wer vom Kochen liest, der denkt wie ein Koch, um die abstrakten Zeichen eines Textes in konkrete Anschauung zu verwandeln. Mit Hilfe mentaler Modelle übersetzen wir das Geschriebene: Wir verwandeln es in ein Bild der geschilderten Tätigkeiten und Ereignisse – und verstehen sie auf diese Weise.
Doch was geschieht eigentlich, fragten sich die fünf Wissenschaftler, wenn wir negierte Sätze lesen oder hören? Wenn uns also jemand sagt: «Bitte
nicht
kochen» oder «
Nicht
Fahrrad fahren»? Lesen wir vom Nicht-Kochen und denken wir dann wie Nicht-Köche? Und wenn ja, wie sollen wir uns das konkret vorstellen? Um das herauszufinden, entwickelten die Wissenschaftler eine komplizierte Versuchsanordnung, bei der zum Beispiel Bilder von fliegenden und im Nest sitzenden Adlern eine wichtige Rolle spielten. Die Ergebnisse zeigen, daß bei affirmativen und negierten Sätzen im Kern dasselbe geschieht: Man könne davon ausgehen, schreiben sie, «dass die Verarbeitung negierter
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