Macht der Toten
die einmal ein Bett gewesen waren. Auf ihrer Wange prangte noch der feuerrote Abdruck seiner Ohrfeige. Ihre Kleidung war mit Rost und Schmutz besudelt. Doch das konnte ihr hübsches Aussehen nicht trüben, genauso wenig wie die kurz geschorenen Haare. Was eine Frau wie sie wohl dazu veranlasst hatte, sich all ihrer Haare zu entledigen? Er bemerkte, wie sie sich verbissen bemühte, die Fesseln an ihren Beinen zu lösen.
»Lassen Sie das!«, sagte er, und seine Stimme klang heiser in seinen Ohren. Er hustete. Sie unterbrach ihre Bemühungen. Er dagegen setzte seine Wanderung durch die Kammer fort. Von links nach rechts und wieder zurück. Fünf Meter im Quadrat.
Sie sah ihm eine Weile dabei zu. Irgendwann sagte sie mit herausfordernder Stimme, laut und deutlich: »Sie haben keine Ahnung, was Sie jetzt machen sollen, oder?«
»Seien Sie still!« Innerlich musste er ihr recht geben. Er wusste tatsächlich nicht, wie es weitergehen sollte – an die Möglichkeit, dass das Achat seine Macht verloren haben könnte, hatten weder er selbst noch seine Auftraggeber gedacht.
»Ich sage Ihnen, was Sie tun sollen: Befreien Sie mich von den albernen Schnüren und lassen Sie mich gehen.«
»Seien Sie endlich still!«
»Wovor haben Sie Angst?«
Er machte einen Schritt auf sie zu, hob die Faust. »Ich sagte, Sie sollen den Mund halten.«
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern. »Haben Sie Angst, dass man uns hören kann?«
»Verdammt«, schrie er, doch mit seinen angeschlagenen Bronchien klang es wie ein Krächzen. »Halten Sie die Schnauze!«
Sie schwieg tatsächlich. Und lächelte.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihn aus der Reserve gelockt. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann das zum letzten Mal jemandem gelungen war. Er lockerte die Faust, drückte die Knöchel der Finger, bis sie knackten. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Nein, in dieser Kammer würde sie niemand hören. Sie diente ihm seit Jahren als Unterschlupf, wann immer er eine »Befragung« vornahm, die langwierig zu werden versprach. Hier konnte er Gespräche führen, ohne dass irgendjemand Notiz davon nahm. Selbst Schreie drangen nicht nach draußen an ein menschliches Ohr.
Durch Zufall war er vor Jahren auf die Kammer gestoßen. Er hatte einen seiner Gesprächspartner schnell und ohne Aufmerksamkeit zu erregen aus dem Weg räumen müssen. Als er plötzlich eine Polizeistreife um die Ecke hatte biegen sehen, war er kurzerhand in einen S-Bahn-Schacht gestiegen. Er hatte sich in den Bunkern, Fabrikeinheiten und verfallenen Untergeschossen unter Berlin wiedergefunden. Mit den S- und U-Bahn-Tunneln, die sich wie Bandwürmer durch die Stadt schlängelten, mit ungezählten Verästelungen, Unterführungen und Gängen, befand sich unter Berlin eine ganz eigene abgeschottete Welt.
Dennoch verspürte er Furcht. Angst davor, sich einzugestehen, dass er, Bischof de Gussa und das ganze Offizium einem Irrtum erlegen waren. Die junge Frau jetzt von ihren Fesseln zu befreien wäre nichts anderes als ein Eingeständnis ihres Scheiterns. Und ihre Suche würde wieder von vorne beginnen. Er wusste nicht, ob er noch die Kraft dazu hatte.
Seine Nase lief und er wischte sie erneut mit dem Taschentuch ab. Mattigkeit überwältigte seine Glieder, er fühlte sich ausgelaugt, nicht nur, was seine körperlichen Kräfte anging. Er verlangsamte seine Schritte, beobachtete die junge Frau aus den Augenwinkeln.
»Suchen Sie das Mädchen!«, hatte Bischof de Gussa ihm während ihres letzten Telefonats aufgetragen. Da war Cato gerade auf dem Weg nach London gewesen, danach hatte er diesen Jammerlappen von Hotelier aufgesucht. Wie war noch sein Name gewesen? Paul Griscus. Oder Grisko? Wie auch immer. Der Bischof hatte gefordert: »Bringen Sie sie mir – und das, was sie besitzt.«
De Gussa war sich seines Sieges gewiss gewesen. Um Cato, der seit Tagen kaum ein Auge zugemacht hatte, noch einmal für den bevorstehenden Auftrag zu motivieren, hatte der Bischof hoffnungsfroh hinzugefügt: »Danach wird alles ein Ende haben. Sie gehen in den Ruhestand, Cato, den haben Sie sich verdient.«
Wenn es danach ginge, hätte Cato seine alten, verbrauchten Knochen längst zur Ruhe betten können. Getrieben von Kardinälen und Bischöfen, war er sein Leben lang von einem Ende der Welt ans andere gehetzt, stets darum bemüht, redselige Zeugen angeblicher Wunderheilungen zu vernehmen – und sie schließlich vom Gegenteil zu überzeugen. Er hatte nie am Sinn seiner Aufgabe gezweifelt –
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