Macht der Toten
viel zu schnell wurde heute von einem Wunder gesprochen. Selbst der Flug zum Mond wurde als Wunder gefeiert. Aber das war er natürlich nicht.
Eines Tages war de Gussa an ihn herangetreten. Und sein Leben hatte sich verändert. Die Sache mit dem Offizium hatte so einfach begonnen. Selbst seinen ersten Mord hatte er ohne Skrupel ausgeführt, denn er tötete im Namen einer höheren Gewalt. Es war nicht bei einem Toten geblieben. Für jedes Problem, das er löste, tauchten zwei neue auf. Mit jedem Puzzleteil, das er entdeckte, wurde das Bild verworrener, das er im Namen des Offiziums – und im Namen Gottes – zusammensetzen wollte.
Und dann, gestern, hatte er sich endlich am Ziel geglaubt. Er hatte das Mädchen gefunden. Sie trug das Achat bei sich. Das Bild war endlich vollständig.
Aber sie ist es nicht! Dieser Satz kreiste einem Echo gleich in seinem Schädel. Sie ist nicht die Richtige! Da war noch ein sorgenvoller Gedanke, der sich in sein Bewusstsein drängte. Doch bevor er ihn zu fassen bekam, hallte es wieder in seinem Kopf: Sie ist es nicht! Sie ist nicht die Richtige.
Was er als Nächstes zu tun hatte, war klar: Er musste dem Bischof Bericht erstatten. Wovor er sich geradezu fürchtete, waren die erwartbaren Konsequenzen: Er musste erneut hinaus auf die Straße, in die Kälte, von einem Ort zum anderen hetzen, auf der Suche nach der Wahrheit. Am liebsten hätte er sich hingelegt, auf die Matratze neben das Mädchen, die Augen geschlossen und sich den heiligen Armen des Schlafes ergeben. Für den Rest seiner Tage.
Aber der Bischof würde das nicht erlauben. Entweder man teilte das Geheimnis des Offiziums oder… Er fluchte in sich hinein. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche weiter hinauszuschieben. Er brachte einen Schlüssel zum Vorschein, schwenkte die schwere Stahlpforte nach innen und verließ den Raum. Mit einem lauten Krachen zog er die Tür zurück in die Angeln. Noch während er das Schloss hinter sich verriegelte, wählte er eine Nummer auf seinem Mobiltelefon.
Es dauerte eine Weile, bis die Handyantenne die dicken Wände des Bunkers bis zu einem Sendemast an der Oberfläche durchdrungen hatte. Im Geiste formulierte er derweil die Worte, die er gleich übermitteln würde. Sie ist es nicht. Sie ist nicht die Richtige! Das Freizeichen erklang. Es ist nicht das Achat. Das Achat funktioniert nicht. Da stieß der Gedanke, der sich ihm vor wenigen Minuten noch entzogen hatte, mit voller Wucht in seinen Schädel. Die Augen des Mädchens. In ihnen hatte sich unverkennbar seine eigene Überraschung widergespiegelt: Das ist unmöglich!
Berlin
Der Schneesturm zerrte an Philips Kleidung, als wollte er sie ihm vom Leib reißen. Dann wieder schlug er ihm mit mächtiger Pranke ins Kreuz, drängte ihn vorwärts, als gäbe es keine Zeit zu verlieren.
Philip trieb sich zur Eile an. Was gar nicht so einfach war. Es kostete ihn zunehmend Mühe, die Schneehaufen auf den Gehsteigen zu überwinden. Seine Beine sträubten sich gegen die Anstrengung. Seine Füße stießen gegen Hindernisse. Einmal stolperte er, stürzte in den vereisten Schnee. Sofort drang der Frost durch die Fasern seiner Kleidung, heftete sich an seinen Leib. Die Haut schmerzte unter der eisigen Berührung. Trotzdem ließ er den Koffer nicht los.
Benommen rappelte er sich auf, torkelte weiter. Hinter ihm erklangen die Schreie der Reisenden, die wie er in das Schneegestöber flohen. Philip trieb sich zur Eile an.
Abrupt tauchte die Haltezone für Taxis vor ihm auf. Sonst reihten sich hier ganze Bataillone cremefarbener Fahrzeuge. An diesem Morgen versperrten ihm nur zwei Mercedes den Weg. Die anderen steckten auf halbem Weg nach Schönefeld im Sturm fest, oder ihre Fahrer waren gleich zu Hause geblieben. Philip beneidete sie. An einem Tag wie diesen, unter anderen Umständen, hätte er sein kleines Wohnklo in Kreuzberg sicherlich auch nicht verlassen.
Von den Fahrern der beiden Taxis vor ihm fehlte jede Spur. Aber selbst wenn sie in ihren Wagen gesessen hätten, es brachte nichts, eines der Gefährte zu besteigen. Zu Fuß konnte er die Sicherheitsbeamten schneller abschütteln.
Nach rechts ging es zu den eingezäunten Parkplätzen für Kurzzeitparker. Da würde er nicht weit kommen. Also rannte er nach links. Weg vom Terminal. Weg von den Menschen. Immer weiter. Weiter. Bis er nur noch umgeben war von weißen Wänden, weißem Himmel, weißen Feldern. Die Schreie der Leute hinter ihm waren verstummt. Jetzt kreischte nur noch
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