Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
Zeitverschwendung gewesen.
Zehn Minuten später hatten sie Calistoga erreicht, als Rachel die Nerven verlor. Was, wenn Alyssa oder Virginia oder wie sie sich nannte, noch nicht so weit war, sich zu erkennen zu geben? Was, wenn ihnen allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz doch jemand gefolgt war?
Als sie sich diese Frage stellte, bog Gregory in die Pickett Road ein. Sie erblickte das kleine gelbe Cottage, und ihr Herz begann zu rasen.
„Du gehst rein“, sagte Gregory, als er den Jeep anhielt. „Ich warte hier draußen auf dich.“
„Ich sehe keinen Wagen. Vielleicht sind sie nicht zu Hause.“
„Warum klingelst du nicht und findest das selber heraus?“
Noch immer unentschlossen, stieg Rachel aus dem Cherokee aus und betrachtete das Haus. Und jetzt? fragte sie sich. Sollte sie einfach klingeln und erklären: „Ich bin deine totgeglaubte Tochter.“ Oder sollte sie irgendeinen Vorwand vorschieben, der sie hergeführt hatte, um Virginia Laperousse die Chance zu geben, von sich aus etwas zu sagen?
Ihre Überlegungen fanden ein jähes Ende, als die Haustür geöffnet wurde und Madame Laperousse mit einem Bastkorb und einer Gartenschere herauskam. Sie trug keinen Schal, ihr langes braunes Haar fiel ihr sanft wallend über die Schultern. Als sie die letzte Stufe erreicht hatte, blickte sie plötzlich auf.
Die Schere fiel zu Boden, als Virginia ihre Hand an die Brust drückte. Einige Sekunden lang konnte sie nichts sagen. „Miss Spaulding.“ Ihre dunklen, leuchtenden Augen betrachteten Rachel mit einer Mischung aus Freude und Furcht.
Rachel konnte sich weder bewegen noch ein einziges Wort herausbringen. All die intelligenten Sätze, die sie die halbe Nacht über einstudiert hatte, waren wie weggewischt.
Die Frau, die sich Virginia nannte, kam langsam näher. Rachel konnte jetzt sehen, dass sie auch bleich geworden war. „Stimmt etwas nicht mit unserer Bestellung?“ fragte sie schließlich.
Ohne den Blick vom Gesicht der Frau zu nehmen, schüttelte Rachel den Kopf.
Virginia deutete auf das Haus. „Möchten Sie nicht hereinkommen?“ Sie blickte über Rachels Schulter und sah Gregory im Jeep sitzen. „Ist der Gentleman ein Freund von Ihnen?“
„Ja.“ Schon besser, ihre Stimme zitterte zwar noch ein wenig, aber zumindest hatten die Stimmbänder wieder ihre Arbeit aufgenommen.
„Möchte er auch hereinkommen?“
„Nein, er ... er möchte im Wagen warten.“ Ihre Beine fühlten sich steif und ihre Hände klamm an, als sie die wenigen Stufen auf die Veranda zurücklegte.
Als Rachel das Haus betrat, fielen ihr zuerst die Blumen auf. Überall standen frische Sträuße, auf der Fensterbank, auf dem Tisch, in einer großen Bodenvase gleich hinter der Tür. Sie liebt also auch Blumen, dachte Rachel. So wie ich.
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ fragte die Frau. „Vielleicht einen Tee? Oder Kaffee?“
Rachels Kehle war so zugeschnürt, dass sie kaum atmen konnte. „Im Moment nichts, Madame Laperousse.“
„Ach, sagen Sie doch Ginnie.“ Sie standen da und sahen sich verlegen an.
„Sind Sie allein?“ fragte Rachel, während sie sich umsah.
„Ja, mein Mann ist zur Bäckerei gegangen.“ Sie lächelte. „Ich fürchte, ich bin süchtig nach Ihren Doughnuts.“
Sie tut noch immer so, als sei sie eine Französin, dachte Rachel. Aber vielleicht wartete sie auch nur darauf, dass sie den ersten Schritt machte.
Die nächste Frage setzte allen Spekulationen ein Ende. „Du weißt es, nicht wahr?“ Ginnie sprach so leise, dass Rachel sie kaum verstehen konnte. „Darum bist du hier.“
Rachels Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen. „Ja“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Ich glaube, ich wusste es schon im ersten Augenblick. Ich ... ich habe nur nicht sofort die Zeichen erkannt.“
„Oh, Lillie!“ Ginnie standen Tränen in den Augen, während sie die Hand vor den Mund presste, als könnte sie so ihre Tränen aufhalten. „Mein Liebling, mein hübsches, kleines Mädchen. Du bist hier, du bist wirklich hier.“
Rachel wusste nicht, wer sich zuerst auf den anderen zubewegte, aber plötzlich standen sie eng umschlungen da und weinten leise.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal wieder sehen würde“, flüsterte Ginnie, während sie Rachel fest umschlossen hielt.
Rachel erwiderte die Umarmung, schmiegte ihr Gesicht in das weiche, duftende Haar ihrer Mutter und sagte mit erstickter Stimme: „Und ich hätte nicht geglaubt, dass ich dich finden würde.“
Ginnie
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