Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
noch in den Kinderschuhen steckten. Wie sollte sie es bloß schaffen, sie alle in die Tat umzusetzen, wenn sie nicht mehr Hannahs Rückhalt und ihre ständigen Ermunterungen hinter sich hatte?
Das laute Hupen, das die Ankunft der ersten Wagenladungen mit Cabernet-Trauben ankündigte, riss Rachel aus ihren Gedanken. Sie wischte sich die Tränen fort und verließ Hannahs Büro, um auf den sonnigen Hof zu gehen, wo Father Bertolucci von einigen Arbeitern begrüßt wurde. Der allseits bekannte Priester war gekommen, um den Trauben seinen alljährlichen Segen zu geben, eine althergebrachte Tradition, gegen die kein Winzer verstoßen wollte, ob Katholik oder nicht.
„Wie geht es Ihnen, meine Liebe?“ fragte er, als er sie begrüßte. Er war ein kleiner Mann mit freundlich blickenden Augen und einer beruhigenden Stimme.
„Heute nicht so gut, Father. Das wird meine erste Presse ohne Grandma.“ Er drückte ihre Hände. „Seien Sie stark, meine Liebe. Ich weiß, dass dies für Sie und Ihre Schwester eine schwere Zeit ist, aber ich habe großes Vertrauen in Sie beide.“ Er lächelte. „Fast so viel Vertrauen wie Ihre Großmutter.“
„Danke, Father“, sagte sie und erwiderte das Lächeln. „Ich werde versuchen, keinen zu enttäuschen.“
Er stellte sich gerade in Position für die erste Wagenladung, als Sam hinter Rachel trat und sie am Arm fasste. „Da ist ein Gespräch für dich“, sagte er leise. „Eine Frau. Sie will nicht sagen, wer sie ist, aber sie behauptet, es sei dringend.“
„Sag ihr, sie möchte warten, Sam. Father Bertolucci fängt jeden Moment mit seiner Segnung an.“
Rachel wartete geduldig, bis der Priester seinen Segen erteilt hatte und abgefahren war, erst dann ging sie in die Keller zurück. In ihrem Büro nahm sie den Hörer ab. „Rachel Spaulding hier.“
Die Stimme am anderen Ende klang leise. „Miss Spaulding, Sie kennen mich nicht“, sagte die Frau. „Mein Name ist Schwester Mary-Catherine.“
Im ersten Moment dachte Rachel, dass die Kirche, der diese Schwester angehörte, von Hannah in ihrer unendlicher Großzügigkeit Geld erhalten hatte und dass sie ihr Beileid aussprechen wollte.
„Es ist äußerst wichtig, dass ich mit Ihnen rede“, fuhr die Nonne in einem drängenden Tonfall fort.
„Wenn es um eine Spende geht, Schwester, werde ich gerne ...“
„Es geht nicht um eine Spende.“
Draußen bellte ein Kellerarbeiter eine Anweisung, und ein überladener Aufsatz wurde vom Lastwagen gehoben, hielt über der Presse einen Moment lang inne, um dann zu kippen und die Ladung in die Maschine zu schütten. „Um was geht es dann?“ fragte sie, während sie sich bemühte, nicht ungeduldig zu klingen.
„Ich arbeite in ,Our Lady of Good Counsel‘ in Santa Rosa“, antwortete Schwester Mary-Catherine.
Rachel runzelte die Stirn. „Our Lady of Good Counsel“ war der Orden, der sie ihren Eltern zur Adoption vermittelt hatte. „Warum wollen Sie sich mit mir treffen?“ fragte sie.
„Am Telefon kann ich darüber nicht sprechen, Miss Spaulding. Ich muss Sie persönlich sehen. Ich verspreche Ihnen, dass ich dann alles erklären werde.“
Die Stimme der Nonne hatte etwas Verzweifeltes an sich, das Rachel nicht ignorieren konnte. Sie überlegte kurz. Santa Rosa lag in Sonoma, auf der anderen Seite der Mayacamas und damit knapp zwanzig Minuten von Calistoga entfernt. Heute würde sie es nicht mehr schaffen. Aber wenn sie früh am Morgen aufbrach, konnte sie um neun wieder zurück sein. Die verlorene Zeit würde sie reinholen, indem sie die Pause durcharbeitete. Ohne Grandma hatte das Essen, das sie und ihre Großmutter oft gemeinsam eingenommen hatten, nicht mehr den gleichen Reiz.
„Ich könnte morgen früh um halb acht bei Ihnen sein. Wäre Ihnen das recht?“
Rachel konnte hören, dass die Frau am anderen der Leitung erleichtert aufatmete. „Ja, ja, das ist gut. Vielen Dank, Miss Spaulding. Wir sind fünf Kilometer nördlich der Stadt gelegen, gleich an der Route 12.“
8. KAPITEL
„Miss Spaulding!“
Rachel hielt den Hörer noch in der Hand, drehte sich um und sah Joe Brock. Er war über zehn Jahre lang Kellermeister bei Spaulding Vineyards gewesen, vor sechs Monaten hatte Hannah ihn auf der Stelle entlassen, nachdem sie ihn erwischt hatte, wie er mehrere Kisten Spaulding Pinot Noir auf seinen Pick-up lud. Später war sie dahintergekommen, dass er den Wein zu einem Spottpreis an ein Restaurant in San Francisco verkauft hatte.
Hannah hatte ihm fristlos gekündigt,
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