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Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
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nachsprechen; sie können allerdings noch sehr gut spontan sprechen. Bei einer anderen Variante von Aphasien sind die «Kabelsysteme» insbesondere im unteren Teil des Frontalkortex durchtrennt und nicht mehr funktionsfähig. Diese Patienten können nicht mehr spontan sprechen, jedoch noch sehr gut nachsprechen. Wie bereits erwähnt, treten diese Sprachstörungen in der Regel bei Läsionen der linken Hemisphäre auf. Eine genaue Analyse der funktionellen Ausfälle zeigte jedoch, dass bei rund 70 % der Aphasiker auch Amusien vorliegen (Schuppert, Münte, Wieringa und Altenmüller, 2000). Es zeigten sich bei den Aphasikern Musikwahrnehmungsstörungen vorrangig im Hinblick auf die Wahrnehmung lokaler Musikinformationen wie Intervall- und Rhythmuswahrnehmung. Aber auch die Wahrnehmung globaler Musikaspekte wie Melodieverlauf oder Rhythmus waren beeinträchtigt. Patienten, die eine Hirnläsion in der rechten Hemisphäre aufwiesen, zeigten stärkere Defizite bei der Musikwahrnehmung als Patienten mit linkshemisphärischen Beeinträchtigungen. Trotz dieser Unterschiede bleibt festzuhalten, dass offenbar auch die linke, eigentlich sprachdominante Hemisphäre wesentlich an der Musikwahrnehmung beteiligt ist. Die Autoren werten die beschriebenen Defizite als Hinweis für eine hierarchische Organisation der Musikwahrnehmung. Sie vermuten, dass die Musikwahrnehmung zunächst rechtshemisphärisch erfolgt, wobei insbesondere Kontur und Metrik analysiert werden. Danach werden die Musikinformationen über das Corpus callosum in die linke Hemisphäre transferiert, wo Rhythmus und Intervalle analysiert werden. Diese klinische Arbeit widerlegt damit die immer wieder geäußerte Links-rechts-Dichotomie der Sprach- und Musikwahrnehmung. Offenbar müssen neuronale Netzwerke beider Hemisphären in die Analyse eingreifen, um eine effiziente Musikwahrnehmung zu bewerkstelligen.
    8.2
    Amusien bei Musikern
    Betrachtet man die Amusien bei Musikern, ergibt sich ein etwas anderes Bild von Musikwahrnehmungs- und -produktionsausfällen als bei Laien. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der berühmte Komponist Maurice Ravel (1875–1937). Die genaue Hirnschädigung von Maurice Ravel ist bist heute mehr oder weniger unbekannt (Shaw, 1978).Heute werden eine Reihe von Störungen, darunter Hormonstörungen, Hirndegenerationen (möglicherweise Pick-Krankheit 48 und/oder primär progressive Aphasie 49 oder Alzheimer-Demenz) und wahrscheinlich ein Schädel-Hirn-Trauma als medizinische Ursache für seine Probleme angesehen (Overy, 2003; Henthorn und Deutsch, 2007). Maurice Ravel war Zeit seines Lebens eher ein Eigenbrötler, der unter Ängsten, Schlafstörungen, Depressionen, Energieverlust und frühen Zeichen von Alterung (z.B. früh ergrautes Haar) litt. Aufgrund der in seinen Tagebüchern nachzulesenden Aufzeichnungen wird sogar vermutet, dass er unter einem Wasserkopf mit den typischen Verschlusszeichen gelitten haben muss. Allerdings scheint keine Beeinträchtigung seiner Intelligenz und Kreativität vorgelegen zu haben. Zehn Jahre nach dem Tod seiner Eltern (1927) wurden erste Sprachstörungen (Dysphasien) und leichte Bewegungsstörungen (Apraxien) auffällig. Die Bewegungsstörungen behinderten ihn sogar beim Klavierspielen. Seine Aphasien und Apraxien sowie andere psychische Beeinträchtigungen schienen zuzunehmen, insbesondere in der Zeit, als er sein berühmtestes Werk, den «Boléro» komponierte. Im Jahre 1932 erlitt er als Fahrgast in einem Taxi einen schweren Unfall. Danach verschlimmerten sich seine schweren Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie die Aphasien und Apraxien. Seine Sprachstörungen äußerten sich insbesondere in fehlerhaften Briefen und Notenniederschriften. Diese Störungen nahmen dramatisch zu und verhinderten offenbar jede Form des Niederschreibens von Musikstücken. Trotz dieser bemerkenswerten sprachlichen Einschränkung, die von vielen Autoren als Indiz für eine primär progressive Aphasie gewertet wird (was auf einen Degenerationsprozess in der linken Hemisphäre, insbesondere in den hinteren Bereichen um die Sylvische Fissur hindeuten würde), konnte er in einer eigentümlichen Art und Weise noch Musik verstehen. Hörte er eigene Musikstücke, so konnte er recht gut noch Spielfehler entdecken, was darauf hinweist,dass sein Musikgedächtnis (besser: sein

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